Die gekaperte Geschichte zurückerobern

Chinua Achebe, Schriftsteller aus Nigeria mit Weltruhm, bekommt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels

Er ist wohl der meistgelesene schwarze Schriftsteller Afrikas, und sein Werk ist der Ausgangspunkt für einen großen Teil der englischsprachigen afrikanischen Literatur. Generationen von Lesern haben durch Chinua Achebes bekanntesten Roman „Things Fall Apart“ (dt: „Okonkwo oder Das Alte stirbt“) erfahren, wie Afrika die europäische Eroberung Ende des 19. Jahrhunderts erlebte. Es war kein historischer Roman – die gewaltsame Kolonisierung Afrikas lag bei Erscheinen dieses Buches 1958 kaum länger zurück als 1958 von heute aus. Es beschrieb gelebte und überlieferte Erinnerung.

Damals war Albert Chinualumogu Achebe 27 Jahre alt, Sohn eines Priesters im Südosten Nigerias. Kern von „Things Fall Apart“ sowie seiner Folgeromane „Arrow Of God“ und „No Longer At Ease“ ist der traumatische und zerstörerische Einzug des Christentums in die Welt des südostnigerianischen Igbo-Volkes. Der Weiße „hat ein Messer an die Dinge gesetzt, die uns zusammenhielten, und wir sind zerfallen“, sagt einer der Charaktere des Buches. Achebe hat seitdem immer wieder betont, seine Mission sehe er darin, den Afrikanern im Allgemeinen, den Nigerianern im Besonderen und den Igbos ganz speziell die Wiederaneignung ihrer gekaperten Geschichte zu ermöglichen.

Achebes Bücher traten einen weltweiten Siegeszug an – vor allem in der schwarzen Diaspora, aber auch bei Nichtafrikanern, die Afrika verstehen wollten. Der Nigerianer beschrieb nicht nur die Kolonisierung, sondern auch die Entkolonisierung und ihre Folgen: Bürgerkrieg, Massensterben, Militarisierung, Gewaltherrschaft, zum Beispiel in „A Man Of The People“ und „Anthills Of The Savanna“.

Achebe ist nie ein Anpasser gewesen. Er gründete Nigerias Rundfunk und mehrere Verlage, aber er überwarf sich nach Nigerias Unabhängigkeit 1960 schnell mit den neuen Herren und schloss sich 1967 dem kurzlebigen Sezessionsstaat „Biafra“ seines Igbo-Volkes an. In den 70er-Jahren ging er ins Exil in die USA. Seit 1990 ist er wegen eines Autounfalls gelähmt und sitzt im Rollstuhl. 1999, nach der Rückkehr der Demokratie in seiner Heimat, besuchte er Nigeria für mehrere Wochen – aber eine Rückkehr auf Dauer erlaubt seine Gesundheit ihm nicht.

Der kurze Besuch reichte, um Achebe in Nigeria von einer Kultfigur in ein Streitobjekt zu verwandeln. So setzte sich der allseits verehrte Autor in die Nesseln, als er die Führer seines Igbo-Volkes für ihre Unterwürfigkeit gegenüber den Militärdiktatoren kritisierte und eine Rückkehr zu den verdrängten einheimischen Sprachen der Igbos forderte – ausgerechnet Achebe, der jahrzehntelang gegen heftige Kritik seinen Entschluss verteidigte, seine Romane auf Englisch zu schreiben, damit die Welt etwas davon versteht. Als er 1999 das Igboland besuchte, hielt Achebe seine Vorträge in der Igbo-Sprache – und zwar in einem altertümlichen Hoch-Igbo, das viele seiner Zuhörer kaum noch verstanden.

Doch diese innernigerianischen Querelen taten Achebes Weltruhm kaum Abbruch. Seine Ehrung jetzt ist eine Anerkennung seiner unwidersprochenen Meisterschaft dessen, was er einst als die wichtigste Aufgabe der Literatur bezeichnet hatte: „Literatur“, so Achebe einmal, „kann es uns ermöglichen, uns mit weit entfernten Menschen und Situationen zu identifizieren.“ DOMINIC JOHNSON