Lernen, Lust und Leistung

Skandinavische Schulen setzen auf Anerkennung statt Ausgrenzung. Deswegen sind sie erfolgreicher. Doch die deutschen Bildungsreformer wollen das nicht sehen – trotz Pisa

Selbst in progressiven Kreisen gilt hierzulande noch: Lernen darf kein Spiel sein

Heute vor sechs Monaten, am 4. Dezember, kam jenes Menetekel über die deutschen Schulen, das inzwischen jeder Taxifahrer kennt: Pisa. Übermorgen in drei Wochen wird Pisa-E, die Auswertung der Schulleistungen im Vergleich der deutschen Bundesländer, veröffentlicht. Das blamable internationale Abschneiden offenbarte den deutschen Sonderweg in der Bildung als Sackgasse und löste überwiegend Nachdenklichkeit und Irritation aus – außer bei einigen Bauchrednern in der Politik und anderen Rechthabern. Pisa-E allerdings könnte den Rückfall in den deutschen Bildungsstreit einleiten. Eine Reform des deutschen Bildungssystems ist jedoch unausweichlich.

Denn international zeigt sich die Überlegenheit von Schulen, die in der Regel bis zur neunten Klasse alle Schüler gemeinsam unterrichten. Häufig werden dort erst in der zweiten Hälfte der Schulzeit oder gar gegen deren Ende Zensuren geben. Schüler werden auch nicht nach Leistungen in A-, B- oder C-Kurse aufgeteilt, wie das in deutschen Gesamtschulen üblich ist. Kurz nach Veröffentlichung von Pisa brachte die Hamburger LAU-Studie sogar an den Tag, dass dort Gesamtschulen die Selektion schärfer betreiben als das dreigliedrige System. In Schweden dagegen ist Differenzierung nach Leistung in den ersten neun Klassen gesetzlich verboten, und in Finnland heißt das Grundgesetz der Pädagogik: Respekt. Man darf Kinder nicht beschämen.

Früher konnte argumentiert werden, vielleicht sind unsere Schulen weniger freundlich als die in Kanada, Schweden oder bei irgendwelchen Finnen, aber sie bringen doch Leistung! Deutsche sagten, geschadet hat es uns nicht, wenn sie sich an manche Demütigung in der Klasse und an die Angst erinnerten, nicht gut genug für die hohe Schule zu sein. Und fragt man sie, woran erinnerst du dich als Erstes, wenn du an deine Schulzeit denkst, dann kommt bei vielen: „Aus dir wird nie was.“ Viele schaffen es trotzdem. Aber dieses Trotzdem ist aufwändig. Unsere Schulen waren vielleicht die Weltmeister in Zeiten der klassischen Industriegesellschaft, als einige einsame Erfinder, wenige misanthropische Autoritäten und vor allem viele Ausführende gebraucht wurden. Wem die Schule beigebracht hatte, du bist ein Niemand, und nur wenn du dich am Riemen reißt und versuchst, ein ganz anderer zu werden, kommst du in die Gnade von Anerkennung, der hatte die wichtigste Lektion intus. Nach dieser Schule war das spätere Leben, auf das sie doch immerzu drohend verwies, eine zur Bewährung ausgesetzte Strafe.

Wie tief dieses kollektive Imaginäre bei uns sitzt, zeigte sich schon bei einem Schwedenbesuch einer Delegation von deutschen Schulräten und Bildungsplanern im Oktober vergangenen Jahres, die ausnahmslos der rot-grünen Reformfraktion angehören. Der Besuch sollte klären, warum die schwedischen Oberstufenschüler in einem anderen internationalen Vergleich, der Mathematik und Naturwissenschaftsstudie Timss, an der Weltspitze stehen. Immer wieder wurden die Schweden gefragt, wie kommen Sie zu diesen Spitzenleistungen, obwohl sie keine Leistungsdifferenzierung bis zum Ende der gemeinsamen neunjährigen Schule machen? Was, so gute Leistungen, obgleich es bis zur 8. Klasse keine Noten gibt? Erst recht Kopfschütteln beim Oberstufenvergleich selbst, wo doch schwedische Schulen alles daran setzen, möglichst alle nach der Folkeskole aufs Gymnasium, so heißt dort die Sekundarstufe II, zu bringen. Tatsächlich schaffen das mehr als 90 Prozent eines Jahrgangs. Mehr als 70 Prozent des Geburtsjahrgangs erwerben die Hochschulreife und 60 Prozent studieren! Und auch das irritierte die Deutschen: Jeder Taxifahrer in Stockholm spricht besser Englisch als die meisten angereisten Oberschulräte, die ihre verwunderten Fragen zu den hohen Lernerfolgen immer wieder mit der Konjunktion „obwohl“ einleiteten. Nicht ein Versuch mit dem Wörtchen „weil“: Gute Leistungen der Schüler, obgleich ihnen so viel Vertrauen und kaum jenes Misstrauen entgegengebracht wird, an das auch viele der deutschen Reformer heimlich glauben.

Die Deutschen scheinen sich im Zweifelsfall einig zu sein: Es kann doch gar nicht sein, dass freiere und auf Gemeinschaft setzende Schulen auch noch die erfolgreicheren sind. Man glaubt eher, dass Individualität und Gemeinschaft sich ausschließen. Tatsächlich bedingt sich beides. Gemeinschaft und Differenz sind Pole, die sich gegenseitig aufladen, keine Gegensätze, die einander ausschließen. Das ist die Lektion aus den Erfahrungen in Skandinavien, Kanada und anderen Ländern, die in ihren Schulen mehr auf Inklusion, satt auf Exklusion setzen. „Du gehörst dazu“, ist dort die Grundbotschaft. „Du kannst mehr, als du glaubst!“ Das ist ein freundlicher Strom der Ermunterung, von dem auch Austauschschüler nach USA-, Australien- oder Englandaufenthalten berichten.

Eine noch nicht veröffentlichte Auswertung der internationalen Pisa-Ergebnisse, von der kürzlich Pirjo Linnakylä, die führende finnische Pisa-Forscherin berichtete, zeigt eine erstaunliche kognitive Überlegenheit in den angelsächsischen Kulturen, zu denen sie auch die skandinavischen zählt. Das Geheimnis nennt sie: „Argumentation und gegenseitige Anerkennung“. Das Wagnis, eigene Ideen zu haben, und die Bereitschaft, sie zu vertreten, werden von einer Atmosphäre aus Zutrauen und Wohlwollen geschützt: Das könnte die Formel für eine erfolgreiche Bildungspolitik in Wissensgesellschaften werden.

Während in Deutschland viele glauben, Gesamtschulen seien pädagogische LPGs, in denen man sich auf Anspruchslosigkeit einigt, zeigen andere Länder, dass Schulen als kultivierte und vom auch dort bestehenden Überlebenskampf des Marktes abgeschirmte Räume wirkliches Lernen erst herausfordern. Doch selbst wenn wir Gesamtschulen von einem Tag auf den anderen in Deutschland einführen könnten, ohne eine große Mentalitätswende würde es wenig bringen. Tief im Herzen glauben die Deutschen offenbar nicht daran, dass sich Lernen, Lust und Leistung vertragen. Unser verqueres Bild vom Lernen wird an Millionen von Spielplatzdebatten über den richtigen Zeitpunkt der Einschulung deutlich. Zumal in progressiven Kreisen münden sie in dem Entschluss: „Ach lass den Kindern noch ein Jahr Kindheit.“ Der Ernst des Lebens kommt früh genug. Lernen ist hierzulande eben kein Spiel.

Zutrauen und Wohlwollen schützen das Wagnis, eigene Ideen zu entwickeln

Die größte Schwäche des deutschen Schulsystems ist deshalb nicht, dass es die Chancen aller zu wenig fördert oder Talente von zu vielen verkommen lässt. Das Hauptproblem ist die Verwahrlosung unserer Schulen, die aus der Verantwortung entlassen sind, sich um schwierige, abweichende und eigensinnige Schüler zu kümmern. Das vergiftet und verdummt. So werden zwei Chancen vertan: Erstens wird Kindern und Jugendlichen nicht ihre Individualität zugestanden, und zweitens wird nicht erkannt, dass Differenz die Seele des Lernens ist. Die wichtigste Lektion aus Pisa wäre es, die Kultur der Aberkennung von einer der Anerkennung abzulösen.

REINHARD KAHL