Das Ende der Legende

Alle Versuche der Musikindustrie, den Handel mit Musiktiteln im Netz zu kommerzialisieren, schlugen bisher fehl. Nun muss sich Napster gerichtlich gegen Gläubiger wehren, die ihr Copyright einfordern

von ROLAND HOFWILER

Sie nannten ihn Napster, damals auf der High School, als er erst 15 war. Mit seinen zersausten Haaren und müden Augen sah er stets aus, als habe er gerade ein Nickerchen (englisch: to nap) gehalten und sei nicht ganz wach. Shawn Fanning, der „Napster“, war aber alles andere als verschlafen: Tag und Nacht tüftelte er an einer Software, die 1999 mit einem Schlag die Welt verändern sollte. Fanning war es gelungen, über das Internet mehrere Computer so zu verbinden, dass die Daten der jeweiligen Rechner auch auf den anderen eingesehen und verschoben werden konnten – damals eine Sensation. Auf diese Weise wollte der Schuljunge aus Massachusetts eigentlich nur seine Lieblingssongs im MP3-Format mit seinen Mitschülern tauschen.

Explosive Entwicklung

Doch die Software, der Fanning seinen Spitznamen gab, verbreitete sich mit rasanter Geschwindigkeit unter Musikliebhabern im Internet. Schon nach wenigen Monaten waren Hunderttausende am „napstern“, Anfang 2000 stieg die Zahl in die Millionen. Die etablierte Musikindustrie sprach von einer „biblischen Plage“ und forderte Polizei, Staatsanwälte und Gerichte auf, der „Piraterie im Musikgeschäft“ den Garaus zu machen. Napster wurde erst verboten, dann umworben, danach reguliert, wieder einmal verboten und schließlich kommerzialisiert.

Am Montag begann nun der vorerst letzte Zug im Napster-Spiel. Die Direktoren der Musiktauschbörse, unter ihnen auch Miteigner Fanning, baten vor einem US-Gericht im US-Bundesstaat Delaware um Gläubigerschutz, um so Klagen der Plattenkonzerne BMG, EMI, Sony, Universal Music und Warner Music erst einmal abwenden zu können. Denn unter dem Druck der fünf weltweit größten Musikmultis war die Gratistauschbörse im Juli 2001 endgültig geschlossen worden, als die Plattenlabel für die Verletzung von Urheberrechten vor US-Gerichten mehrstellige Millionenbeträge erfolgreich geltend gemacht hatten – die Napster allerdings nicht aufbringen konnte.

Was aber hinter den Kulissen tatsächlich ausgehandelt wurde, liegt bis heute im Dunkeln. Denn noch während die Gerichtsverhandlungen liefen, scherte der Medienriese Bertelsmann mit seinem Musiksubunternehmen BMG aus der Sammelklage aus, kaufte Software und Kundendatei von Napster auf und „verwaltete“ fortan die rapide schrumpfenden Vermögenswerte der Tauschbörse.

Mitte Mai war es dann soweit. Napster stand unmittelbar vor dem Bankrott, als Bertelsmann wieder einsprang und die Reste von Napster im Stil einer unter Konkursverwaltern üblichen „holländischen Auktion“ übernahm: Vier Tage vor dem endgültigen Aufkauf hatten Interessenten noch 15 Millionen Dollar geboten, davor sogar das Doppelte. Doch die Napster-Bosse ließen sich darauf nicht ein. Das Topmanagement – darunter Software-Erfinder Fanning und Bertelsmann-Manager Konrad Hilbers – nahmen kurzerhand ihren Hut, um plötzlich unter einer neuen Bertelsmann-Gesellschaft wieder einzusteigen, die insgesamt etwa 90 Millionen Dollar an Kapital für einen kommerziellen Neustart von Napster bereitstellen will.

Es gibt kein Geld im Netz

Was Bertelsmann bewegt haben könnte, auf solch unsicherem Terrain Claims abzustecken, darüber kann vorerst nur spekuliert werden. Offiziell glaubt in der Plattenbranche derzeit niemand ernsthaft daran, mit Internet-Musikbörsen das große Geschäft machen zu können. Für die meisten Experten ist Napster längst nur noch Legende, während seine Erben quicklebendig das Netz beherrschen: In den vergangenen Monaten haben neue Tauschbörsen wie Morpheus (www.musiccity.com), Kazaa (www.kazaa.com), Audiogalaxy (www.audiogalaxy.com) und einige Dutzend mehr einen Besucheransturm auf ihren Homepages erlebt, der die Napster-Euphorie von einst längst mit bis zu 65 Millionen Surfern weit in den Schatten stellt.

Nach einer Erhebung des Marktforschungsunternehmens Jupiter MMXI schieben monatlich etwa elf Millionen Europäer ihre Soundsammlungen im Netz hin und her. Und die Deutschen entpuppen sich als eifrige Kollektionäre. In den ersten Monaten dieses Jahres wurden nach MMXI-Angaben allein über die Morpheus-Webseite monatlich über zwei Millionen Musikstücke getauscht. Weltweit sollen es mehr als 3,5 Milliarden Titel monatlich sein. Auf die zeitweilig kostenpflichtige Napster-Seite griffen im vorigen Jahr dagegen nur noch weniger als ein Prozent der Musikfreaks zurück. Die Plattenkonzerne sprechen von massiven Umsatzeinbußen. Die Zahl der CDs und LPs sei demnach allein in Deutschland in den vergangenen beiden Jahren um fast 30 Millionen auf 244 Millionen Tonträger gefallen – die Zahl der vom Netz gezogenen Raubkopien an Videospielen und Kurzfilmen nicht mitgerechnet.

Während sich die Tauschfans keinen Deut um Eigentumsfragen kümmern und auf die Privatkopie und den Tausch unter Gleichen setzen, arbeiten die Unterhaltungsmultis fieberhaft an einem neuen Standard zur Musikdistribution, der, ähnlich dem Microsoft-Betriebssystem Windows, langfristig das Abspielen und das Verbreiten von digitalen Ton- und Bildträgern weltweit regulieren soll. Die nötigen Absprachen und Abkommen zwischen den Konzernen gibt es bislang noch nicht, doch mehren sich die Anzeichen, dass vor allem Bertelsmann eine Art Tauschgeschäft mit den anderen Musikmultis in Bälde vorschlagen wird. Als erster Schritt sollen Sony und Vivendi auf die künftige Datenbank von Bertelsmann zugreifen können und umgekehrt. Auch mit EMI und Warner Music wird im Stillen über ein neues Musikformat verhandelt, das die MP3-Technologie überlisten soll.

Chancen einer künftigen Kooperation erhoffen sich die Konzerne dadurch, dass die anarchistische Napsterei im Netz langfristig an ihren offenen Tauschformen selbst zugrunde gehe, durch fehlende Sicherheitskontrollen und unzählige Hacker-Angriffe. So wurde Mitte Mai Kazaa von einem Virus so schwer getroffen, dass die Tauschbörse nur unter großen Anstrengungen ihren Service wieder aufnehmen konnte. Eine ähnliche Attacke zerstörte bei Morpheus die kompletten Übertragungsprotokolle. Die Alt-Napster-Gemeinde vermutet hinter diesen Sabotageaktionen allerdings die etablierten Musikmultis, die ihrerseits die Hackerangriffe gestartet haben sollen, um den freien und kostenlosen Musiktausch zu unterbinden. Die wiederum verwahren sich gegen solche Vorwürfe und drohen mit Verleumdungsklagen – gegen jeden, der solche Verschwörungstheorien unbegründet in den Raum stellt.