piwik no script img

Gegen das Unwissen von Liberec

Die einen haben die Benachteiligung erlebt, die anderen wissen nichts davon

aus Liberec SABINE HERRE

Der „Bau der Versöhnung“ steht am nördlichen Ende des Benešovo náměstí. An dem Platz also, der einst den Namen Adolf Hitlers trug und der vor wenigen Jahren nach jenem tschechoslowakischen Staatspräsidenten benannt wurde, der für die Vertreibung von über 2,5 Millionen Deutschen verantwortlich war. Die Bibliothek, die die umfassendste Sammlung in deutschsprachiger Literatur in Tschechien besitzt, ist das modernste und wohl auch schönste Gebäude der Stadt. Am 9. November 2000 wurde es unter der Schirmherrschaft des deutschen und des tschechischen Staatspräsidenten eingeweiht.

Von Verständigung oder gar Versöhnung ist an diesem Frühlingsabend wenige Wochen vor den tschechischen Parlamentswahlen im Veranstaltungssaal der Bibliothek wenig zu spüren. 25 Zuhörer sind gekommen, um über die Geschichte ihrer Stadt im Zweiten Weltkrieg zu diskutieren. „Die Deutschen, die jungen Deutschen, das sind doch alles Faschisten“, meint ein kaum 20-Jähriger. Und ein Liberecer, der etwa 60 Jahre älter ist, hält einen Artikel über die „Germanisierung Tschechiens“ in die Höhe. „Ich muss aus einer kommmunistischen Zeitung zitieren, denn die anderen sind ja längst in deutscher Hand.“ Deutsche sind bei der Diskussion nicht anwesend. Dabei war das frühere Reichenberg einst Hauptstadt des Sudetengaus und auch heute leben hier noch rund 800 Deutsche. Deutsche, die nach dem Zweiten Weltkrieg nicht vertrieben wurden, weil sie gegen Hitler gekämpft hatten. Deutsche, die die Tschechen in der Industrie brauchten. Und denen dennoch die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft und ihr Eigentum genommen wurden.

Erwin Šolc ist einer dieser Nicht-Nazis und Doch-Deutschen. Der 72-Jährige lebt heute im sicher hässlichsten Gebäude von Liberec. Auf einer Länge von rund 400 Metern bildet der Plattenbau mit seinen 693 Wohnungen die nordöstliche Grenze von Liberec – von seinen Fenstern kann man über Hügel des Lausitzer Gebirges bis zur deutsch-tschechischen Grenze bei Zittau sehen.

Jene Grenze, über die Šolc, Sohn eines von den Nationalsozialisten verhafteten Kommunisten, 1947 aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft illegal in seine böhmische Heimat zurückkam – und dafür von den Tschechen verhaftet wurde. Bis zu zwei Jahren Gefängnis drohten solch illegalen Grenzgängern damals. Dass es dazu nicht kam, hatte Šolc allein seiner Minderjährigkeit zu verdanken, er war erst 20. „Mein Vater war so wütend auf die tschechischen Kommunisten. Er sagte immer: Um an die Macht zu kommen, haben sie das deutsche Proletariat verraten.“

Aus einer antifaschistischen Familie stammt auch die 1942 im Londoner Exil geborene Věra Vohlídalová. Doch im Unterschied zu den Šolcs war dies eine deutsch-tschechische Familie und so konnte sie nach dem Krieg legal nach Liberec zurückkommen. Vor Verfolgung schützte sie dies nicht. Sie sagt: „Ich habe meine Mutter damals immer gefragt: Warum soll ich nicht Deutsch sprechen? Bis uns deswegen einmal ein Polizist verfolgte. Danach habe ich jahrelang kein Deutsch gesprochen.“

Die Vohlídalovás hatten es stets abgelehnt, sich nach nationalen Kategorien zu definieren. „Meine Verwandten kamen aus den verschiedensten Teilen der Habsburgermonarchie. Wir waren keine Deutschen oder Tschechen, wir waren Böhmen.“

Věra Vohlídalová ist die Initiatorin der Versöhnungsbibliothek. Sie hat in Botschaften, in Ministerien und Abgeordnetenbüros vorgesprochen, um die gut 14 Millionen Euro dafür zusammenzubekommen, die Stunden sind nicht zu zählen. Die Anfeindungen auch nicht. Schließlich ging es nicht nur um die Bibliothek, sondern auch um den Neubau der Reichenberger Synagoge, die bis zur Reichspogromnacht 1938 hier stand. „Das sollen doch die Deutschen zahlen, hieß es.“ Jetzt bildet die in Form eines halben Davidsterns errichtete Synagoge einen Teil der Bibliothek. Genau so hat es Věra auch mit ihrem – inzwischen dafür preisgekrönten – Architekten diskutiert. „Die wissende Gesellschaft schützt ihre Minderheit, das soll zum Ausdruck kommen.“

Zurück zur Diskussion in der Bibliothek. Dort ist ein Streit über die Geschichte der Stadt entstanden. 700 Jahre lang lebten die Deutschen hier, wie konnte man sie da vertreiben, sagt ein Mittvierziger. Eine Historikerin dagegen fragt, wie es den Reichenbergern 1918 einfallen konnte, nach der jahrhundertelangen Zugehörigkeit zu Böhmen auf einmal Teil Österreichs werden zu wollen? Hier im Norden des Landes?

Wer von der Teestube der Versöhnungsbibliothek auf den Benešplatz schaut, findet eine Antwort. Man fühlt sich ein bisschen wie in der österreichischen Hauptstadt. Das Rathaus, das Stadttheater, die Kaffeehäuser – überall waren Wiener Architekten am Werk, gab es Wiener Vorbilder. Auf eine Sachertorte und einen Wiener Kaffee, beides mit viel Sahne, kam die Mutter des heute 69-jährigen Lothar Porsche stets aus dem nahen Maffersdorf zum Einkaufsbummel in die Stadt. Auch Ferdinand Porsche, Konstrukteur des schnellen Luxusautos, stammt von dort, Lothars Vater jedoch war Verkaufsleiter des wichtigsten Teppichproduzenten der Tschechoslowakei. Deshalb wurde er nicht vertrieben. Die Tschechen brauchten ihn, um den Export des Betriebs wieder in Gang zu bringen.

Weniger gut gebrauchen konnten sie seinen Sohn. Lothar Porsche musste mit 13 Jahren als Hilfsarbeiter in der Teppichfabrik anfangen: „Das war für mich Zwangsarbeit. Die meisten Kinder wurden gezwungen zu arbeiten, manche sogar im Bergwerk.“ Geholfen hat dem Jungen schließlich der neue tschechische Direktor der Teppichfabrik. „Der war im KZ misshandelt worden und hat trotzdem die Deutschen nicht gehasst, er wollte, dass ich eine Ausbildung als Weber mache.“

Eigentlich ein typischer Beruf für einen Reichenberger. Lange Zeit galt die Stadt als das „böhmische Manchester“ und die zahlreichen Arbeiter, die sie so im 19. Jahrhundert anzog, machten sie zu einem Zentrum der österreichischen Arbeiterbewegung. Für deutsche und tschechische Arbeiter. „Doch die Deutschen haben die Tschechen damals irgendwie nicht als Mitbürger, sondern nur als Gastarbeiter gesehen. Es muss so ähnlich gewesen sein wie früher mit den Türken in Berlin“, sagt Ingrid Lottenburger. Die 68-Jährige ist halb Berlinerin und halb Reichenbergerin. Bis vor einigen Jahren saß sie für die Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus. Mitte der 90er Jahre gründete sie das „Deutsch-tschechische Forum der Frauen“. Ihre Ferien hat sie früher im Haus der Großmutter in Nordböhmen verbracht, als Berlin bombardiert wurde, zog die Familie ganz hierher. Und musste dann als Flüchtlingsfamilie kurz vor Kriegsende Reichenberg wieder verlassen.

Als Ingrid Lottenburger 30 Jahre später Liberec wieder besucht hat, fand sie eine fast unveränderte Stadt vor. „Das Kino, wo ich zum ersten Mal allein war, das Hotel, in dem ich meine Hochzeitsnacht verbringen wollte, alles stand noch. Nur eines war anders: Ich kannte keinen Menschen.“

Es fällt schwer, sich vorzustellen, wie man die Bevölkerung einer 70.000 Einwohnerstadt einfach austauschen kann. Doch wer heute über den Benešplatz geht, meint an einem Ort zu sein, an dem nur junge Menschen leben. Im Unterschied zu Prag ist Liberec mit seinen heute gut 100.000 Einwohnern eine Immigrantenstadt. Im Unterschied zu anderen tschechischen Städten mit traditioneller Industriestruktur liegt die Arbeitslosigkeit bei unterdurchschnittlichen 7,5 Prozent, was auch mit der Nähe der deutschen Grenze zu tun hat.

„Wir waren keine Deutschen oder Tschechen, wir waren Böhmen“

Die aktuelle Debatte über die Benešdekrete scheint die jungen Liberecer kaum zu interessieren. Als Václav Klaus, Vorsitzender der stärksten, konservativen Partei, zu einem Wahlmeeting über die „Verteidigung der nationalen Interessen“ lud, kamen nur 200 Zuhörer auf den Benešplatz.

Die Vertreibung der Deutschen ist in Liberec – fast – kein Thema. Im Heimatmuseum endet die Geschichte der Stadt im Jahr 1918, bei der Diskussion in der Bibliothek beschäftigt man sich mehr damit, wie bei der Okkupation des Sudetenlandes die Tschechen vertrieben wurden. Und wenn die Stadt in diesem Jahr ihr 650-jähriges Jubiläum feiert, spielen die ehemaligen Bewohner nur eine Nebenrolle. „Die Menschen hier wissen so wenig über die Vertreibung, und sie stellen keine Fragen“, meint Ingrid Lottenburger. Daher hat sie mit dem deutsch-tschechischen Frauenforum bereits zwei Diskussionsveranstaltungen über die gemeinsame Geschichte organisiert.

Und weil die einen Vertreibung und Benachteiligung erlebten, die anderen darüber aber nichts wissen, fällt die Debatte darüber so schwer. Zugleich stellt sich die Frage der Gültigkeit der Benešdekrete für die Deutschen, die in Liberec geblieben sind, viel konkreter als für die vertriebenen Sudetendeutschen. „Wir haben ja Lastenausgleich erhalten. Doch die Deutschen in Tschechien haben nichts bekommen, und so müsste die deutsche und die tschechische Politik gemeinsam etwas für sie tun“, fordert Ingrid Lottenburger. Lothar Porsche sagt: „Wir hatten gehofft, dass der Bundeskanzler sich für uns einsetzt. Doch Schröder hat erklärt, dass die Situation der Deutschen in Tschechien eine innere Angelegenheit dieses Landes ist.“ Wenig Lob hat er freilich auch für die Landsmannschaft in München: „Die kümmert sich doch vorrangig um die Sudetendeutschen in Deutschland.“

Erwin Šolc hält die Chance auf Entschädigung durch Prag für „gleich Null“. Und das, obwohl Tschechien daran kaum zugrunde ginge. „Ich habe mal zusammengestellt, was unsere Leute so zurückbekommen möchten. Das war lächerlich wenig.“

Für Věra Vohlídalová ist klar, dass die tschechische Regierung sich endlich für die Vertreibung entschuldigen muss. Viel Hoffnung macht auch sie sich allerdings nicht. Da setzt sie lieber auf konkrete Projekte. Gerade hat das Frauenforum Renate Künast zu einer Debatte über gesunde Ernährung nach Liberec eingeladen. Und einen Erfolg hat die Bibliothekarin ja schon: 1.500 Besucher zählt der Versöhnungsbau täglich.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen