Was für eine Zumutung

In Leipzig wollen heute wieder die Glatzen marschieren. Und der Bürgermeister und das Oberverwaltungsgericht werden wie schon im vorigen November darüber streiten, was denn die Demokratie mehr gefährdet: rechtsradikale Kundgebungen oder ein ausgehöhltes Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit

von ANDREAS ROTH

Justitia hatte sich schon ins Wochenende verabschiedet an diesem Sonnabend in Leipzig, als der Nazianführer Christian Worch seiner tausendköpfigen Gefolgschaft ein „Ruhm und Ehre der Waffen-SS!“ zurief. Kurz bevor Justitia ins Wochenende ging, hatte sie noch in Gestalt des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts diese Demonstration genehmigt. Das war am 3. November 2001, sechs Tage vor dem Jahrestag der „Reichskristallnacht“.

Verletzte gab es damals auch. Von links flogen Steine und Flaschen, und die Polizei setzte das staatliche Gewaltmonopol mit nicht wenig Gewalt durch. Wer was abbekommen hatte, wurde im Krankenwagen weggefahren. Unter den Verletzten dieses Sonnabends befand sich auch das Zutrauen vieler Augenzeugen zu einem Rechtsstaat, der dieses Spektakel nicht nur zuließ, sondern mit höchstrichterlichem Beschluss ausdrücklich erlaubt hatte.

Aber es stand ein Leuchtturm da – hinter der Küste der Polizeikette, die die Rechten abschirmte, und in der Brandung der über fünfhundert sprachlosen oder zornigen Gegendemonstranten – je nachdem ob Kirchenmann oder Antifafrau. Ein Leuchtturm im schwarzen Mantel und mit SPD-Parteibuch, Wolfgang Tiefensee, der Bürgermeister. „Eine neue Form des zivilen Widerstandes brauchen wir“, sagt der Bürgermeister trotzig. Aus der Menge ruft einer: „Wolfgang, halt durch!“

Der Rufer weiß, dass kaum eine deutsche Stadt so grimmig entschlossen mit der Justiz um das Demonstrationsverbot für Rechtsextremisten ringt wie Tiefensees Leipzig. Aber „der Wolfgang“ muss zu seinem Missvergnügen mit seiner ruhigen und eindringlichen Stimme der aufgebrachten Menge erklären, nach welchen Regeln heute wie schon am 1. Mai 1998, am 1. Mai und dem 1. September 2001 gespielt wird: Erst melden Rechtsextremisten bei der Stadt Leipzig eine Demonstration an, die Stadt verbietet dann – wegen Mangel an Polizisten, wegen der Verletzung des Andenkens eines Gedenktags oder Ähnlichem –, und das Sächsische Oberverwaltungsgericht in Bautzen verbietet in letzter Instanz und letzter Minute das Verbot. Das Spiel ist langweilig, weil es immer gleich ausgeht.

Justitia spielt mit verbundenen Augen mit. Fernab im Oberlausitzer Städtchen Bautzen sitzt sie, sichtet Akten und lässt dann drei Richter Recht sprechen. Und von ihrem Oberverwaltungsgericht aus, unter den gemütlich anmutenden Fachwerkgiebeln, fällt Justitias Blick missbilligend nach Leipzig auf einen Bürgermeister, der hinter der Polizeikette „Gesicht zeigt“ gegen rechts – und auch ein bisschen gegen eine Rechtsprechung, die die Rechten demonstrieren lässt. Und der sagt: „Das ist ein Gefühl einer großen Ernsthaftigkeit. Das Gefühl, das Richtige zu tun, aktiv einer Gefahr zu begegnen – so ein Gefühl ist das.“

Aber Gefühle, sagt da der Richter Michael Raden vom Sächsischen Oberverwaltungsgericht, selbst die verletzten Gefühle der Opfer rechter Gewalt, sind zu wenig für Justitia, um das finstere Schauspiel zu verbieten. „Ja, es muss schon mehr sein als nur Gefühle, die verletzt werden. Dass die Rechten ihre Meinung äußern dürfen, wird den Opfern zugemutet.“ Justitias Sockel, von dem sie predigt, ist dabei Artikel 8 des Grundgesetzes, der das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung auf Versammlungen und Demonstrationen verbürgt. Der freundliche Richter Raden, den man dem Pullover und der Sprache nach eher für einen altgedienten Sozialarbeiter hält, sagt es: Eine Zumutung ist das. „Aber die Versammlungsfreiheit ist eben ein so hohes Gut, dass ohne sie ein demokratischer Rechtsstaat gar nicht denkbar wäre. Man muss deshalb eben auch Äußerungen hinnehmen, mit denen unsere Gesellschaft und Verfassung bekämpft werden.“ Freilich, das muss der Richter Raden sagen, mit eigenen Augen und Ohren hat er noch nie den Zorn einer solchen Demonstration gespürt.

Der Bürgermeister jedoch muss sich hinter der helmbewehrten Polizeikette an noch ganz andere Demonstrationen erinnert haben: „Ich bin 1989 mit vielen anderen auf diese Straßen hier gegangen, um auch die Demonstrations- und Versammlungsfreiheit zu erkämpfen.“ Für alle Minderheiten sollte sie gelten, hatten sie damals gefordert. Auch eine NPD ist eine Minderheit, das hatten viele damals übersehen. Wenn das Oberverwaltungsgericht mal wieder eine rechte Demonstration in Leipzig erlaubt, sagt der Bürgermeister deshalb zu seinen Leuten: „Diese Entscheidung ist auszuführen, fertig. Da gibt’s nichts zu rütteln und zu wanken.“

Er unterstreicht das dann immer, indem er mit der Faust auf die Tischplatte klopft. Indes, das stadtväterliche Zähneknirschen kann er so nicht übertönen: „Wo viele Auffassungen sind, ist natürlich auch Frustration, ist doch klar.“ So klar, dass Richter Raden die Welt nicht mehr versteht: „Mich persönlich hat überrascht, dass hier viele Bürger denken, dass bestimmte Meinungen nicht geäußert werden dürften, obwohl doch zu DDR-Zeiten bei ihnen die Versammlungsfreiheit völlig unterdrückt wurde.“

Der Richter und der Bürgermeister sind Kinder derselben Nachkriegsgeneration, der eine aufgewachsen in Westberlin und Baden-Württemberg, der andere in der DDR. Es gibt keinen Showdown zwischen beiden, dafür denken sie viel zu ähnlich. Denn natürlich würde Richter Raden die Rechten am liebsten auch nicht auf der Straße demonstrieren sehen, sein Sohn stand ja erst unlängst in Bautzen den Rechtsradikalen auf einer Demo gegenüber. Aber wenn am Freitagnachmittag sein Gericht angerufen wird, über eine rechte Demonstration am folgenden Samstag zu urteilen: „Ja, da müssen wir eben das Gefühl ausschalten, dass darf eben nur verstandesmäßig entschieden werden.“ Dabei atmet der Richter tief durch. „Was übermorgen passiert oder was vorgestern passiert ist, dass Rechte Ausländer überfallen haben, das dürfen wir – leider, kann man vielleicht sagen – nicht berücksichtigen.“

Dabei hält sich der oberste Richter nur an die allerobersten Richter. Das Bundesverfassungsgericht hatte nämlich 1985 anlässlich der Demonstrationen um das Atomkraftwerk Brokdorf entschieden, dass auch Demonstrationen gegen die verfassungsmäßige Ordnung legal sind. Als einzige Einschränkung lässt man in Karlsruhe mit Beschluss vom 26. Januar 2001 ein Kundgebungsverbot für Rechte am Holocaustgedenktag gelten. Ansonsten darf nur verboten werden, wenn die „öffentliche Ordnung und Sicherheit“ derart gefährdet ist, dass sie von der Polizei nicht mehr kontrolliert werden kann. Doch die kann erst einschreiten, wenn die ersten Steine schon fliegen.

Skrupel habe ich dabei sicherlich“, sagt Richter Raden über seine eigenen Entscheidungen in der Sache. „Das klingt jetzt natürlich so, als müsste das Kind erst in den Brunnen fallen, damit man nachher Verbote verhängen kann – und das ist natürlich ein bisschen so.“ Der Bürgermeister jedoch kann das Fallen des Kindes nicht mit ansehen. „Ich fordere, dass die Justiz als dritte Kraft immer tagespolitisch aktuell angemessene Antworten findet und nicht nur Gesetze exekutiert.“ Einem gelernten Verwaltungsrichter wie Michael Raden stehen bei solchen Forderungen die kurzen Haare zu Berge: „Ich fände es fatal, wenn wir versuchen würden, über die Rechtsprechung bestimmte politische Entwicklungen zu verhindern. Es könnte doch genauso gut sein, dass Richter verhindern wollten, dass die PDS an die Regierung kommt. Das wäre ja durchaus denkbar.“

Das Prinzip der Gewaltenteilung hat der Richter verinnerlicht wie der Physiker die Gravitationsgesetze. Das heißt dann: Für Verbote ist allein die Politik zuständig. „Der Gesetzgeber könnte doch bestimmen, dass Nazis an bestimmten Tagen nicht demonstrieren dürfen. Ich glaube nicht, dass das Bundesverfassungsgericht etwas dagegen sagen würde.“ Allein, der Gesetzgeber hält sich zurück und schiebt den Schwarzen Peter dankend wieder zurück zur Justiz. Doch auch unter den Juristen gibt es Streit. Da ist das Oberverwaltungsgericht Münster regelmäßig aufmüpfig und spricht Rechten das Demonstrationsrecht ab – und das Bundesverfassungsgericht hebt diese Urteile genauso regelmäßig wieder auf.

„Beide in Robe, beide mit der Hand auf dem Grundgesetz, und beide kommen sie zu unterschiedlichen Urteilen, lieber Herr Raden“, konstatiert der Bürgermeister Tiefensee nicht ohne eine gewisse Genugtuung. Und er klagt: „Wir kranken eben daran, dass das alles nur Schnellverfahren von sechs oder sieben Tagen sind. Es wird nie gründlich diskutiert.“ Die Richter in Bautzen haben für ihre Entscheidungen manchmal nur Stunden Zeit: von Freitagabend auf Sonnabend früh. Die Verantwortung reicht Richter Raden unterdessen von der Justiz weiter nach Leipzig: „Die erreichen mit der ganzen Aufregung im Vorfeld doch nur, dass noch mehr gewaltbereite linke Chaoten kommen, und verhelfen damit der NPD zu einer Publizität, die sie sonst nie haben würde.“ Viel besser und rechtlich absolut wasserdicht wäre es doch, mittels Auflagen alle Bomberjacken, Springerstiefel, Fahnen und auch den Alkohol zu verbieten und damit den Rechten den Spaß am Demonstrieren zu verderben, meint der Richter. Doch der Bürgermeister will kein Spielverderber sein, sondern Signale setzen.

Der Bürgermeister und der Richter verstehen einander und auch wieder nicht. Manchmal kann der so konziliant plaudernde Richter Raden auch ganz aufgebracht werden: „Wenn man die Leipziger hört, könnte man meinen, die Nazis stünden kurz vor der Machtübernahme, wie 1933. Aber das isses doch nicht, das isses doch nicht … Diese Ängste begreife ich nicht. Die Weimarer Republik ist sicherlich nicht daran zerbrochen, dass die Rechten ihre Meinung sagen durften.“ Ja, sagt da der Bürgermeister, meilenweit entfernt von 1933 sind wir, und betont „meilenweit“. Er erzählt dann von einem Gespräch mit dem großen alten Philosophen Hans-Georg Gadamer im Sommer über das „Wehret den Anfängen“.

Von seinem Amtszimmer hat der Bürgermeister einen guten Blick auf das ehemalige Reichsgericht mit seiner Stein gewordenen deutschen Geschichte. „Das andere ist, dass das mit den Anfängen immer so schwierig abzusehen ist: Wo sind die Anfänge, und wo steht man mittendrin? Ich komme aus einer Diktatur, das ist erst zwölf Jahre her. Deshalb appelliere ich doch nur dafür, wach zu sein wie ein Seismograf.“ Und wie solle man angesichts von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen auch von einer gefestigten Demokratie reden. So redet der Bürgermeister, und solches bekommt der Verwaltungsrichter Raden oft zu hören in Briefen und am Telefon. Die Leute im Osten treibt diese offene Frage offenbar mehr um als die im alten Westen, stellt er fest.

Der Richter ist gelassen bei solchen Gesprächen, ein vertrauensvoller Sohn der Bonner Demokratie. „Noch“, sagt er – mehr unbewusst. Gelassen ist er, weil er über Jahrzehnte rechte Politiker in Baden-Württembergs Landtag ein und auch wieder aus gehen sah. „Ich will nicht sagen, das war kein Beinbruch. Sicherlich war’s einer. Aber irgendwann waren sie dann eben wieder draußen. Das ist auch eine Frage der Erfahrung.“

Für den Bürgermeister ist das eine Frage, die ihn ratlos und manchmal ein bisschen wütend zurücklässt. Etwa wenn ihn der Dekan der Leipziger Juristenfakultät fragt: „Herr Tiefensee, was ist denn der 1. September? Der 1. September ist für uns kein Tag mit Symbolkraft. Offensichtlich haben Sie in Ihrem DDR-Geschichtsunterricht mal was vom 1. 9. gehört, aber das war bei uns nie Thema.“ Das Bautzener Gericht sah’s ähnlich und ließ am Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen rechte Truppen durch Leipzig marschieren unter deren hintersinnigem Motto: „1. September – damals wie heute: Für Freiheit, Frieden und Selbstbestimmung“.Für viele, die damals in Leipzig an den Straßenrändern standen, wurde am selben Tag der Rechtsstaat zur Blackbox. „Juristen haben da eine Riesenverantwortung“, hebt der Bürgermeister Tiefensee mahnend die Stimme. „Die können nicht sagen: Nach mir die Sintflut. In dem Maße, in dem ich als Bürger die Rechtsprechung nicht mehr verstehe, in dem Maße schwindet Vertrauen. Auch das kann zur Gefährdung von Demokratie führen.“

Am Abend des 3. November übrigens sind die Marschierer mit dem Kurzhaarschnitt nur hundert Meter weit gekommen. Erst stand Bürgermeisters Gegendemo im Wege, ob der nun von Amts wegen durfte oder nicht. Und dann war die von den Richtern gesetzte Zeit um. Bis dahin aber gab es – wie gesagt – einige Verletzte.

ANDREAS ROTH, 24, lebt als freier Journalist in Leipzig und Dresden