Tokio total und vertikal

Hier wird kein Platz verschwendet. Bis zur letzten Fensternische wird alles genutzt. Das Zentrum ist eine Straßenkreuzung, die Geschäfte dort sind auch sonntags geöffnet, Kirchen gibt’s sowieso nicht, daher auch keine Reue, Geld ausgegeben zu haben

Shibuya, Shinjuku, Ikebukuro, Ueno heißen die magischen Orte

von SIGRUN PRAHL

Eigentlich wollte ich anfangen: „Wenn man hier durch die Straßen läuft …“, aber halt, man läuft hier nicht so einfach durch die Straßen. Man steigt zunächst in die U-Bahn und dann wahrscheinlich noch in die S-Bahn ein. Wenn man einsteigen kann und sich nicht reinquetschen muss. Allerdings sehr gesittet reinquetschen. Und dann irgendwann wieder rausgequetscht, und schließlich geht es nur noch darum, den richtigen Ausgang zwischen A1 und D14 zu erwischen. Und nun sucht man sein Ziel, das keine Adresse hat, denn herkömmliche Adressen mit Straßennamen sind unüblich. Vielmehr schaut man auf die Rückseite der Visitenkarte, wo keine Namen in romanischer Schreibweise aufgedruckt sind, sondern Planausschnitte mit geheimnisvollen Zeichen. Natürlich alles in Hiragana, Katakana und Kanji, nix mit Romanji.

Visitenkarten (Meiji) sind hier ungeheuer wichtig. Möglichst viele Titel und Stempel und Prägungen drauf. Und mit einem Diplom der Architektur und einem Doktor in Städtebau darauf muss die überreichte Adresse ja wohl auch zu finden sein.

Den U-Bahnhof entronnen, schaut man sich um: Hier wird kein Platz verschwendet. Bis hin zur letzten Fensternische wird alles genutzt. Das Erdgeschoss reicht bei weitem nicht aus, alle Geschäfte, Lokale und Restaurants aufzunehmen, sie sind auf den Werbetafeln außen angezeigt und befinden sich in verschiedenen Stockwerken, alle ohne Fenster. Wenn es doch ein Fenster gibt, dann ist es mit Reklametafeln zugehängt.

Fenster scheinen eine lästige Erfindung abendländischen Naturdenkens. Sie stören bei der Arbeit am Computer, und man will hier in einem Restaurant nicht auf die Straßen, sondern auf seinen Teller schauen oder ins Gesicht des Gegenübers. Die Gaststätten sind in kleine Nischen unterteilt, die anderen Gäste will man nicht sehen; man ist froh, wenn man mal zu zweit allein ist nach all dem Rein- und Rausgequetsche in der U-Bahn und den überfüllten Wohnungen.

Diese Stadt ist vertikal organisiert, Siemens-Fahrstühle überall. Auch die Werbung und die Schriftzüge an den Häusern sind vertikal, schließlich wird die japanische Schrift von oben nach unten gelesen.

Die Aufsätze mit Leuchtreklamen auf den Dächern der Gebäude stellen von der Größe her jede viergeschossige Straßenrandbebauung einer mittleren deutschen Stadt in den Schatten.

Die Sonne geht im Sommer ohnehin schon um sieben Uhr unter, und man ist froh, die grauen Aluminiumfassaden nicht mehr vor Augen zu haben. Man lässt sich lieber blenden von rot , grün, blau und gelb gleißendem Licht.

Auch im historischen Zentrum, und das ist immerhin ungefähr hundert Jahre alt. Der Ginza-Distrikt wurde 1923 durch das große Kanto-Erdbeben zerstört und danach wieder aufgebaut. Zwei Hauptstraßen kreuzen sich dort. Sie sind enorm breit und trotzdem von Auto- und Fußgängerverkehr überlastet. Doch am Sonntag sind sie für den Autoverkehr gesperrt, denn dann sind am meisten Menschen unterwegs, die Geschäfte natürlich geöffnet, Kirchen gibt es sowieso nicht, daher auch keine Reue, Geld ausgegeben zu haben.

Das Zentrum von Tokio ist also eine Straßenkreuzung. Und diese Straßen haben zufällig auch einen Namen. Viele Abendländer haben wohl schon einmal ein Bild von dem berühmten zylindrigen Gebäude gesehen, das ganz aus Glas und dessen Oberfläche nur aus Reklametafeln besteht. Der 1963 von Nikken Sekei als San-Ai Dream Center gebaute Zylinder zunächst einen zwanzig Meter hohen Aufsatz mit Werbung für Mitsubishi, der bald darauf durch die Werbung für Coca-Cola ersetzt wurde.

Der Ginza-Distrikt mit seinen bescheidenen Leuchtwürfeln und Coca-Cola-Reliefs hat einen Touch von Siebzigerjahre. Und eigentlich gibt es hier nur Touristen und Boutiquen zu sehen. Die richtigen und modernen Zentren Tokios liegen an der S-Bahn-Linie, dort, wo die Menschen nicht extra hinfahren müssen, sondern sowieso vorbeikommen. Shibuya, Shinjuku, Ikebukuro, Ueno heißen diese magischen Orte, die besonders nachts von Menschen wimmeln.

Aber zurück zur Orientierung nach Visitenkarte. Falls man den gewünschten Ort einfach immer noch nicht finden kann, gibt es eine Lösung. Schließlich hat jeder in Tokio mindestens ein Handy. Da kann man anrufen und sich abholen lassen, an einer Straßenkreuzung, die keine Straßennamen hat. Handys sind besonders praktisch bei Großveranstaltungen, zum Beispiel beim hanabi, zu Deutsch „Feuerwerk“. Wenn dann eine Million Menschen am Sumida River zusammenkommen, um das wöchentliche Feuerwerk zu sehen, wird es schwierig, sich zu treffen. Am besten, man verabredet sich zehn U-Bahn-Stationen vorher.

Japaner verabreden sich aber vor Ort und rufen sich dann gegenseitig an. Der Angerufene springt auf und winkt mit der freien Hand, mit der anderen muss er ja das Handy halten, in das er zuvor mushmushi reingebrüllt hat. Die Geräuschkulisse bei Großveranstaltungen ist deshalb immer mushmushi und dieses synthetische Biepen. Ab und zu schaut man beim hanabi dann in den Himmel, die Feuerwerke finden von 19.10 bis 20.30 Uhr oder von 19 bis 20.20 Uhr statt.

Großveranstaltungen, wie wir sie kennen – Rockkonzerte oder Fußballspiele –, sind nichts gegen das wöchentliche Hanabi-Spektakel. Das Schönste sind jedoch keineswegs die Smileys oder Blumen am Firmament, sondern die Kimonos der jungen Damen. Einige der Herren tragen einen Yukata, der allerdings weniger farbenprächtig ist; dafür können sie sich in ihren Schuhen besser voranbewegen.

Die Businessmen heißen hier salarymen. Sie arbeiten von 9 bis 9 und müssen dann noch mit ihrem Chef trinken gehen; und manchmal sitzen dann gaijins (Ausländer) am Nebentisch, die gerne eingeladen werden, zum Beispiel zum Hopi. Das ist choju (Reisschnaps), gemischt mit alkoholfreiem Bier. Sprudelt stark und schmeckt wie Fanta, und man merkt nicht, wie man langsam betrunken wird. Aber dann kann man es wie die Japaner machen und in der U-Bahn schlafen. Das ist hier normal, zu jeder Tages- und Nachtzeit, auch im Stehen. Manche schnarchen, bis ihr Handy klingelt. Zum Beispiel das Handy einer Businesswoman in Rosarot mit Minnie Mouse oder Hello-Kitty-Anhänger.

Die letzte U-Bahn fährt um zwölf. Das ist die Hauptverkehrszeit, also zum letzten Mal rein- und rausgequetscht und dann nach Hause und morgen wieder rein- und rausquetschen …