Zeit suchen, Töne finden

Das Murmeln betender Gemeinden: Mit ihrer Arbeit „33 Felder“ spürt die in Berlin lebende Klangkünstlerin Christina Kubisch in der Parochialkirche dem Wandel vom hoch frequentierten Gotteshaus zum Ausstellungsraum für Soundinstallationen nach

von BJÖRN GOTTSTEIN

Die Steintafel gibt sich hartnäckig. Man möge auf sie schreiben, was man wolle, steht auf ihr geschrieben – sie bleibe doch immer bloß eine Steintafel. Das Medium trotzt seinem Inhalt. Tatsächlich sind die vier Gedenktafeln, die die Eingangshalle der Parochialkirche schmücken, heute vor allem eines: Tafeln aus Stein. Als barocken Zierrat nimmt man die Platten im Vorbeigehen vielleicht noch war; aber wovon sie berichten, davon nimmt kaum jemand Notiz. Zurzeit allerdings quäken die Tafeln Besuchern ihren Inhalt ungefragt entgegen. Aus goldfarbenen Lautsprechern verlesen emotionslose Computerstimmen die Tafeltexte auf Französisch, Lateinisch und Deutsch.

Die sprechenden Inschriften sind Teil der Installation „33 Felder“ von Christina Kubisch. Wie so häufig hat die Klangkünstlerin, die seit 1987 in Berlin wohnt, den Ausstellungsort selbst zum Gegenstand ihrer Arbeit erhoben. Als gäbe es eine forensische Klangkunst sucht Kubisch die Räume nach Spuren ab und erschließt nun die emotionale Qualität der Inschriften, die weniger die Kirchenannalen dokumentieren, sondern vom Tod, von Kriegen und Machtkämpfen erzählen.

Oder sie entdeckt Spuren abgehängter Bilder in einem Nebenraum, den früher die Porträts sämtlicher Pfarrer zierten, vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Die bleichen Wandflecken weckten die Neugier der Künstlerin: „Spuren haben mich immer interessiert“, erklärt Kubisch. „Die Frage: Was war da eigentlich? Und welchen Bezug finde ich heute dazu? Gedächtnis und Gedächtnisspeicher sind ein wichtiges Thema meiner Arbeit.“

Aber diese Gedächtnisarbeit ist weder Klangarchäologie noch -restauration. Kubisch verleiht der Geschichte eine von Präsenz und Gegenwart getränkte Stimme. Wenn man jetzt durch diesen Raum schreitet, hängen dort nicht einfach wieder 26 Porträts. „Hermann Naatz. Geboren 1842. Gestorben 1908. Von 1871 bis 1908 Pfarrer an der Parochialkirche“, tönt es stattdessen trocken aus einem der schmuck gefassten Flachlautsprecher. Anstelle der Bilder werden Lebensdaten eines jeden Pfarrers verlesen – ein Stimmengeflecht, das wie das Murmeln einer betenden Gemeinde klingt.

Nun könnte man einwenden, dass Kubisch den Klang kaum gestalte, dass sie ihr Material bloß zusammentrage und ausstelle. „Das ist, als ob man einem Maler vorwerfe, Farben aus der Tube zu pressen, anstatt sie aus den Pigmenten selbst herzustellen“, kontert Kubisch. Ihre schöpferische Leistung liegt nicht in der Arbeit am Klang selbst, sondern in der Konstruktion von Zusammenhängen, denen sie die Klänge aussetzt.

Mit dem dritten Teil ihrer „33 Felder“ begibt sich Kubisch in den Glockenraum des Kirchturms. Dort erklingt eine schlanke Komposition mit Stimmgabelklängen, darunter antiquierte tiefe Modelle, die ganz wunderbar schnarren. „Stimmgabeln“, erklärt Kubisch, „stehen vor dem eigentlichen Klang. Man sucht ihn noch, den Ton.“ Natürlich gleichen die Stimmgabeln darin Kirchenglocken, die ja ebenfalls vor dem eigentlichen Gottesdienst stehen und auf den religiösen Akt einstimmen. Zugleich erinnert Kubisch damit an die Parochialkirche als Konzertsaal, den früher tausende Menschen aufsuchten und der über Jahrhunderte fester Bestandteil des Berliner Musiklebens war. Heute setzt die Parochialkirche diese Tradition fort als Installationsstätte „Singuhr“. Kubischs „33 Felder“ sind auch eine Hommage an den Ort, der sie ausstellt.

Do – Sa 14 – 20 Uhr, So 14 – 24 Uhr, Parochialkirche, Klosterstraße 67