: Jenseits der Fürsorge
Verstrickungen zwischen einer jungen Delinquentin im Knast und einer Gleichaltrigen „draußen“: Das Stück „Cabrio“ der Gruppe Kirschkern & COMPES unter Regie von Maryn Stucken
von LIV HEIDBÜCHEL
Wer sieben Jahre im Gefängnis sitzt, hat nicht nur einen Gartenzwerg geklaut. Das weiß Tracey selbst genau. Doch warum sitzt sie dann im Knast? Und warum will gerade Catherine Miller das so genau wissen? Immer wieder stellt sie Tracey diese Frage – und zwar vor Publikum. Sie steht nämlich kurz vor ihrer Entlassung, das Projekt „Change“ soll sie auf ihr Leben danach vorbereiten. Dort arbeitet auch Catherine Miller, ehrenamtlich und offensichtlich viel zu schick für den Knast. Bei einer Veranstaltung darf Tracey als Schlagzeugerin auf die Bühne. Der Haken: Sie soll erzählen, warum sie sitzt.
Der unfreiwillig engen Beziehung zwischen einer jugendlichen Täterin und einer merkwürdig interessierten Außenstehenden widmet sich das neue Jugendstück von kirschkern & COMPES unter der Regie von Maryn Stucken. Cabrio basiert auf dem Jugendbuch Liebe Tracey, liebe Mandy des Australiers John Marsden. In dem Briefroman freunden sich zwei 15-Jährige an, deren Verhältnisse kaum unterschiedlicher sein können: Die eine sitzt ein, die andere lebt vermeintlich geordnet. Doch auch „draußen“ bei Mandy läuft das Leben nicht normal: Ihr Bruder ist ein gewalttätiger Waffenfreak, die Eltern desinteressiert.
Für das Stück ersann Regisseurin Stucken gemeinsam mit Judith Compes und Sabine Dahlhaus die Figur der Catherine Miller, einer Frau, „die dranbleibt an jemandem, der verroht und unberührbar ist“. Durch diesen Kunstgriff muss nun Judith Compes, die Ältere des Erfolgsduos in der Hamburger Kindertheaterszene, nicht in die Rolle der Mandy schlüpfen. Die Darstellung der Tracey, überlässt sie der jungen Sabine Dahlhaus.
Wie authentisch deren Tracey ist, stellte sie bereits bei der Aufführung in der Strafvollzugsanstalt Vechta vor begeisterten weiblichen Häftlingen zwischen 14 und 21 unter Beweis. Auch wenn das Stück zu dem Zeitpunkt noch nicht ganz stand, so war dies doch „die richtige Premiere“, erzählt Stucken. Aber auch im Lichthof in Bahrenfeld war die konzentrierte Stille bisweilen greifbar – im Publikum wie zwischen den beiden Darstellerinnen, die sich wie Raubkatzen umkreisten.
Sobald Dahlhaus als Tracey die Bühne betritt und hinter dem Schlagzeug Platz nimmt, dehnt sich ihre Anspannung im ganzen Raum aus. Sicher: Die eng zusammengehaltenen Haare mit einer langen Strähne durchs Gesicht, Piercings und Army-Look entsprechen dem gängigen Bild einer aggressiven Jugendlichen. Doch Dahlhaus‘ Gesamterscheinung hängt nicht so sehr an diesen Äußerlichkeiten. Verhalten und Sprache, Gestik und Mimik: Alles ist beängstigend überzeugend. Sie ist eine junge Frau mit einem Minimum an Selbstkontrolle, eine, bei der man froh sein kann, dass sie ihre Wildheit nur beim Schlagzeugspielen von der Kette lässt. Wie sie auf das Instrument eindrischt, Catherine Miller damit über den Mund fährt und sich unverletzlich gibt, sagt mehr als jedes ihrer hingerotzten Worte.
Compes‘ hintergründige Miller fungiert lediglich auf den ersten Blick als ruhiger Gegenpol. Keineswegs hat man es hier mit einer fürsorglichen Quasi-Therapeutin zu tun, die ein Geständnis aus gewissenserleichternden Gründen will. Sie braucht es nur für sich allein und nutzt den einzigen weichen Moment Traceys gnadenlos aus. Endlich beginnt Tracey auszupacken. Über den Tag, an dem sie ein Cabrio klaute. Bei Stuckens fesselnder Inszenierung kommt die Tat, die die Frauen erst zusammen geführt hat, ganz am Ende. Im Mittelpunkt stehen die Figuren und ihre Verstrickung.
weitere Vorstellungen: Mi, 12. + Do, 13. Juni, 11 Uhr, Do auch 19 Uhr, Lichthof, Mendelssohnstr. 15
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