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Gift

DAS SCHLAGLOCH   von MICHAEL RUTSCHKY

Die Zahl der Antisemiten nimmt ununterbrochen zu, je schärfer man nach ihnen fahndet

Insgesamt sind durch den Fall 45 landwirtschaftliche Betriebe betroffen. Darunter auch das staatliche Gestüt Schweiganger, das für seinen Bio-Betrieb in Saulgrub fünf Tonnen Bio-Gerste bezogen hatte. Bis auf eine Tonne ist die Gerste bereits an etwa 100 Jungrinder verfüttert worden, 30 Rinder wurden bereits verkauft. Die mit der Gerste gefütterten Tiere dürfen laut Ministerium nicht mehr als Bioware angeboten werden. Das Fleisch darf zwar als konventionelle Ware verkauft werden, jedoch nur, wenn durch Proben zuvor zweifelsfrei nachgewiesen wurde, dass kein Nitrofen enthalten ist.Süddeutsche Zeitung“,10. Juni 2000

Man hat das Gefühl, nicht wahr, wir seien im Kreis gegangen. Jetzt geht es wieder um vergiftete Nahrung, in welcher Gestalt die unterdrückte und ausgebeutete Natur sich an der menschlichen Zivilisation rächt. Leider fehlt es dem Nitrofen, soweit ich sehe, an der schuldbeladenen Drastik, die BSE auszeichnete. Es fehlt das mythische Bild: dass das Rindfleisch uns mit Wahnsinn infiziert, weil wir Rinder via Tiermehl vom Vegetarismus abgebracht und zum Fleischfressen verführt haben.

Und zwischendurch hatten wir uns doch vielversprechend weit von der Nahrung, von der Natur entfernt. Da war das Gift nicht chemischer, sondern semantischer Herkunft: der Antisemitismus, der aus einem unveröffentlichten Roman Martin Walsers troff – ein Gift, das der bekannte Frankfurter Zeitungsmitherausgeber tüchtig weiterverbreitete, indem er feierlich der Weiterverbreitung abschwor (und den Roman vorabzudrucken verweigerte).

Das Bächlein des Walser’schen Giftes, durch die Warnungen hinreichend verstärkt, floss nun glücklich mit einem anderen zusammen: Möllemann, Karsli – und wir durften uns Sorgen machen über die antisemitische Kontamination der ganzen Republik. Daran wirken aber Antisemiten ebenso wie die Kritiker der Antisemiten mit, insofern sie vor Walsers und Möllemanns Bächlein warnten, als ginge es um Niagara Falls. Es kompliziert die Lage, dass der erste Satz von Antisemiten zu sein pflegt: Ich bin kein Antisemit, aber … Was den Kritikern der Antisemiten natürlich wohlbekannt ist.

Meine Lieblingsgeschichte handelt von dem vergessenen Balladen-Dichter Börries von Münchhausen. Keineswegs sei er Antisemit, versicherte er Ende der Zwanziger gegenüber dem Kunstwissenschaftler Aby Warburg; vielmehr beschäftigen ihn ernsthafte Probleme. So pflege er mit seinen jüdischen Freunden die Frage zu diskutieren: Ob man nicht staatlicherseits drastisch die Heiratsmöglichkeiten von Juden mit arischen Mädchen einschränken müsse. Die Rassenmerkmale des Dunkeläugigen und -haarigen setzen sich mühelos gegen das Blonde und Blauäugige durch. Am Ende ist Deutschland nicht bloß durchmischt und durchrasst, nein, vielmehr durchgehend brünett. Da muss man das Hellhaarige und -äugige doch unter staatlichen Naturschutz stellen!

Bevor der Antisemitismus bzw. die Warnungen vor dem Antisemitismus das entsprechende Gift verbreiteten, floss es aus den Bildern und Dramaturgien der Computerspiele in die Gehirne der Jugendlichen und motivierten einen von ihnen, Robert Steinhäuser, zum Massenmord in seinem Erfurter Gymnasium. So etwas geschieht nie, ohne dass man auf eine einschlägige Vergiftung zurückschließen kann. Der Vollständigkeit halber will ich erwähnen, dass das uns alle bedrohende Gift davor weder chemischer noch semantischer, sondern politischer Art war: die universale amerikanische Aggressivität, die nach einem billigen Anlass für den Dritten Weltkrieg suchte. Insofern letzten Endes ökonomische Interessen die US-Politik bestimmen, erkennen wir noch eine vierte, gewiss die gefährlichste Sorte Gift, die die Lebensinteressen der Menschheit bedroht, das internationale Kapital.

Aber im Ernst. Inzwischen wurde schon öfter bemerkt, dass diese Art Panik mindestens einmal, öfter mehrfach pro Saison die große Medienerzählung antreibt und erschüttert. Allmählich sollten wir nicht mehr bloß erstaunen, welche große Themenvielfalt sich panisch nutzbar machen lässt, von BSE bis zum internationalen Kapital; man möchte doch auch den Mechanismus genauer ins Auge fassen, der so unterschiedliche Themen – lange erwartete ich mir viel vom Elektrosmog – zu unterwerfen vermag.

Im Wesentlichen handelt es sich tatsächlich um diese paranoide Hermeneutik des Verdachts und des Misstrauens, die Vergiftungen des Körpers und des Geistes oder der Seele zu ermitteln versucht – immer ein wenig zu spät, versteht sich. Stets ist die Durchdringung des Volkskörpers oder -geistes durch BSE oder Computerspiele oder Antisemitismus schon viel zu weit fortgeschritten, als dass Säuberungsmaßnahmen noch greifen könnten. Ja, man muss feststellen, dass die zuständigen Behörden unfähig, wenn nicht unwillig sind, die Vergiftungsfolgen wirkungsvoll zu bekämpfen. Hier gehen dann die Verschwörungstheoretiker an den Start.

Im Wesentlichen handelt es sich um diese paranoide Hermeneutik des Verdachts und des Misstrauens

Was macht diese Hermeneutik des Verdachts und der Vergiftung so erfolgreich? Zu allererst der Sinn, den sie auf Anhieb so überreichlich produziert. Dass in der modernen Welt die meisten Prozesse voneinander getrennt ablaufen; dass die Politik und die Pädagogik, die Kunst und die Ökonomie, die Jurisprudenz und die Religion kein gesellschaftlicher Superapparat koordiniert, das erträgt der Bürger nur schlecht. Es gibt keine Stelle, an der man sich zentral beschweren könnte; nicht Vater oder Mutter, kein König oder Führer („wenn das der F. wüsste!?“), auch das Politbüro fällt aus. Es wird eigentlich sogar immer undeutlicher, worüber man sich beschweren sollte, genauer: die Beschwerden individualisieren sich so stark, dass nur noch das Individuum selbst für ihre Beseitigung zuständig scheint. Da kommen die frei schwebenden Vergiftungsängste gerade recht.

Zweitens operiert diese Hermeneutik des Verdachts und der Vergiftung so erfolgreich, weil sie die Gefahr in ihrem eigenen Vollzug unaufhörlich vermehrt. Die Zahl der Antisemiten nimmt ununterbrochen zu, je schärfer man nach ihnen fandet; die Suche nach Gewaltdarstellungen vervielfacht deren Vorkommen. Dass ausgerechnet das Biogut vom Nitrofenskandal ereilt wird, eigentlich verwundert, dass so etwas nicht schon viel früher geschah: Die Bioprodukte sind doch von sich aus auf Vergiftungsangst zugeschnitten – eines Tages erfahren wir, dass Krebs vorzüglich Homöopathie und Akupunktur verursachen.

Schließlich muss die Funktionsweise der großen Medienerzählung selbst dieser paranoiden Erzählung zuarbeiten. Es ist wohl die Geschwindigkeit, mit der sich die flüssigen Vergiftungsängste ablösen, heute Chemie, morgen Kultur, übermorgen Politik. Da ergibt sich immer wieder frisch Erzählenswertes. Der Skandal bleibt aber folgenlos, gewissermaßen ästhetisch, ein Schauspiel. Heute kann man überhaupt nichts mehr essen, konstatieren die beiden alten Damen vor der Geflügeltheke im Supermarkt tief befriedigt. Ihren Jahren entsprechend fehlte ihnen ohnedies der Appetit.

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