„Dekrete haben nichts mit dem Beitritt zu tun“

Die grüne EP-Abgeordnete Elisabeth Schroedter ist überzeugt, dass der EU-Beitritt Tschechiens nicht an den Vertreibungsgesetzen scheitert

taz: Was haben die Beneš-Dekrete eigentlich mit dem EU-Beitritt Tschechiens zu tun?

Elisabeth Schroedter: Aus meiner Sicht gar nichts. Ich habe den Eindruck, dass die Sudetendeutschen auf diesem Weg den Versuch starten, die alte Geschichte noch einmal aufzurollen. In Tschechien hat das die verheerende Wirkung, dass auch dort nationalistische Kräfte im Wahlkampf mobilisiert werden.

Tschechiens Chefunterhändler hat dem Europaparlament versprochen, prüfen zu lassen, ob die Dekrete mit den EU-Rechtsstandards vereinbar sind. Was ist dabei herausgekommen?

Das Ergebnis ist interessant. Es zeigt, dass viel Spielraum für politische Interpretationen bleibt. Sudetendeutsche können für ihren Standpunkt ebenso Anhaltspunkte finden wie tschechische Nationalisten oder die kritischen Prager Intellektuellen um Václav Havel.

Das EU-Parlament will in einem weiteren Gutachten vom Heidelberger Völkerrechtler Frowein prüfen lassen, ob aus den Dekreten für die Zukunft Situationen entstehen können, die zum Beispiel dem Diskriminierungsverbot im EU-Recht widersprechen. Gearbeitet wird an anderen Gutachten zu diesem Thema. Führen die Politiker ein Schattengefecht?

Eine große Gruppe österreichischer und deutscher Christdemokraten in unserem Parlament fühlt sich als Fürsprecher der Vertriebenen. Die haben das Thema gepuscht. Die bisher existierenden Gutachten entsprechen offensichtlich nicht ihren Erwartungen. Herrn Nassauer geht es um das Dekret Nummer 5 vom 19. Mai 45, das die Enteignung von Deutschen, Ungarn, „Verrätern und Kollaboranten“ regelt. Meiner Ansicht nach sollte ein Stichtag für die Eigentumsfrage gefunden werden. Man könnte zum Beispiel sagen, dass alle bis Februar 1948 vorgenommenen Enteignungen unangetastet bleiben. Dann entstehen für die Vertriebenen keine Restitutionsansprüche.

Es gibt Juristen, die meinen, dass die Dekrete durchaus Strahlwirkung in die Zukunft entfalten können.

Meines Erachtens müssen diejenigen Passagen gestrichen werden, die Verbrechen im Zusammenhang mit den Vertreibungen von der Strafverfolgung ausnehmen. Wer Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat, muss zur Verantwortung gezogen werden. Auf tschechischer Seite wächst das Verständnis für diese Forderung. Das hat aber nichts mit dem Beitritt zur EU zu tun. Das ist nach meinem Verständnis eine Sache, die im Europarat in Straßburg geklärt werden muss.

Wie schätzen Sie die Kräfteverhältnisse im Europaparlament ein – immerhin muss es ja den Beitrittsvertrag mit Tschechien billigen.

Ich glaube nicht, dass der Beitritt daran scheitert. Voraussichtlich werden wir über den Beitritt einer ganzen Gruppe von Ländern gemeinsam entscheiden. Die Erweiterung platzt nicht wegen einer solchen Detailfrage.

Die Bundesregierung will vor der Wahl kein Angebot zum Landwirtschaftskapitel machen. Und nun der Beneš-Streit. Kommt der Erweiterungsfahrplan ins Rutschen?

Die Erweiterung ist eine Sparbüchse für Deutschland. 15 Milliarden Euro, die 2002 und 2003 für neue Mitglieder eingeplant waren, sind nicht gezahlt worden. Nun die Erweiterung verschieben zu wollen, ist reine Wahlkampfpolemik. Das ruft in den Beitrittsländern die nationalen Kräfte auf den Plan. Die Last der Erweiterung tragen die Menschen dort – und die wollen nicht länger vor der Türe warten.

INTERVIEW: DANIELA WEINGÄRTNER