Total dereguliert

Vorspiel zur Herbstwahl samt süffisanten historischen Bezügen: René Polleschs „Der Kandidat (1980). Sie leben!“ am Schauspielhaus

von ANNETTE STIEKELE

Das zweite Rangfoyer des Schauspielhauses platzte aus allen Nähten. Der Schweißpegel stieg. Erst bei den Zuschauern, dann bei Darstellern und Souffleuse. Denn auch die neuste Aufführung von René Polleschs Der Kandidat (1980). Sie leben!, uraufgeführt vor wenigen Tagen in Braunschweig beim Festival Theaterformen, setzt auf die bewährte zeremonielle Hysterie der Schauspieler. Laut werden und dann wie auf Kommando entspannen. Worte wie Gewehrsalven abschießen und mit den anderen in einen Schreiwettbewerb treten.

Die Souffleuse ist bei dem Textwust fester Teil des Abends, auch wenn die Darsteller sie mit „Hilf ihr nicht!“ unter Druck setzen. Denn da kommen keine Belanglosigkeiten auf den Tisch, sondern komplexe Reflexionen, wie „Das transnationale Kapital braucht nationalstaatliche Verteidigungsreflexe.“ Dazu turnte das Pollesch-Trio – Catrin Striebeck, Caroline Peters und Bernd Moss – lustvoll durch die trashige Plüscharena voller Kuscheltiere, Kaminstühle, Neon- und Tierfell-Sitzkissen. Dazu die Sprechmaschine von Catrin Striebeck. Mit überdimensionaler Sonnenbrille und Perlenketten über ihrem Fummel verkörpert sie den Idealtypus der „sexuell-ekstatischen, hysterischen Frau“, die Pollesch für seinen Ideentransport bevorzugt. Empfindsamer ihr Gegenpart Caroline Peters. Gemeinsam treten sie mit dem selbstironischen Bernd Moss („Ich bin ein schneller Denker- und Ideentyp“) in einen anarchischen Diskursgroove.

Es sind die bewährten optischen und akustischen Zuspitzungen, mit denen Pollesch hier gegen Turbokapitalismus und Enthumanisierung im Zeitalter der Globalisierung zu Felde zieht. Gegen die Durchökonomisierung aller Lebensbereiche und die neoliberale Freiheitsidee, in der sich jeder seine Jobs erfinden muss. Peters beklagt ihr „dereguliertes Innenleben“, Striebeck zieht über die „Hamburger Fickindustrie“ her und wirft Peters ein „Du Beute“ vor die Füße. Dabei betreibt Pollesch sein übliches Textsampling, zitiert aus Kunst- und Gegenkulturpublikationen und verquickt manchmal auch nur deren Überschriften miteinander.

Der Kandidat ist politischer und sperriger als seine Vorgänger, ist zugleich böses Vorspiel zur Wahl im Herbst. Beide Kandidaten kriegen da ihr Fett weg – ob das „Blair-Wichser-Schröder-Stoiber-Pollesch-Project“ als Horrorvision dient oder die Verlegung des Staates Bayern nach Berlin beschworen wird. Attackiert werden auch die Pläne zum Wiederaufbau des Stadtschlosses, hinter dessen Fassade sich doch bloß „die Konsumtempel der Kontrollgesellschaft“ befinden. Dazu flimmern über einen Videoprojektor Bilder von Kluges, Austs, Eschweges und Schlöndorffs Der Kandidat. Der Titel suggeriert die analoge Vorwahl-Situation anno 1980. Damals griff ein strammer Lederhosenträger nach der Macht, Franz Josef Strauss trat gegen Helmut Schmidt an.

Weiteres Pollesch-Thema ist der Hamburger Beust-Schill-Senat. Da wird die „Verelendung der Drogenszene mit Vivaldi wegsimuliert“. Postdramatisch, zynisch, trashig. Dazwischen kriegen Theaterabsolutist Peymann, Lichtallergikerin Hannelore Kohl und „Stella, die Sau“ ihr Fett weg. Und Der Kandidat den publikumseitigen Jubel.

nächste Vorstellung: 27. Juni, 22.30 Uhr, Rangfoyer des Schauspielhauses