Die Perfektion des Imperfekten

Die wissenschaftliche Untersuchung der Geschichte der Behinderung steht in den USA schon seit längerem auf der Tagesordnung. In Deutschland gibt es erst wenige Wissenschaftler, die sich in diesem Forschungsgebiet engagieren

„Die Debatte betont die medizinischen Aspekte immer noch viel zu sehr.“

von SEBASTIAN LINKE

Am ersten Mai hatte die Behindertenbewegung dieses Jahr einen großen Erfolg zu feiern: Das „Bundesgleichstellungsgesetz“ trat endlich in Kraft. Wie in den USA schon seit über zehn Jahren können damit auch in Deutschland Behinderte gegen ihre „Behinderung“, etwa durch Treppenstufen oder falsch gebaute Toiletten, gerichtlich vorgehen.

Das deutsche Gesetz wurde in Anlehnung an sein amerikanisches Pendant „Americans with Disabilities Act“ von 1992 ausgestaltet und formuliert. Die 12-jährige Verspätung dieser gesetzlichen Gleichstellung zeigt die unterschiedliche Tradition in der gesellschaftlichen Integration Behinderter in Deutschland und in den USA. So hatte es die amerikanische Behindertenbewegung leichter, weil durch Bürgerrechtsbewegungen wie die der Schwarzen ein anderes Selbstbewusstsein von Minderheiten vorherrschte. Auch hatte man in Deutschland Behinderung lange Zeit maßgeblich medizinisch definiert und damit als individuell und therapierbar angesehen.

„Die deutschen Kulturhistoriker haben mit der geschichtlichen Aufarbeitung der Behinderung und der Integration Behinderter in die Gesellschaft noch immer nicht begonnen“, bemängelte Carol Poore, Germanistikprofessorin an der Brown-University in Providence, USA, kürzlich auf der Tagung „Phantomschmerz Debatten um den (im)perfekten Menschen im 20. Jahrhundert“ in Berlin.

Die Wissenschaftlerin untersucht die unterschiedliche Darstellung behinderter Menschen in Film und Literatur. Durch ihre vergleichenden Analysen in Deutschland und Amerika zeigte sie, wie die unterschiedliche Darstellung behinderter Menschen in Filmen der Nachkriegszeit ein anderes demokratisches Bewusstsein im Umgang mit Behinderung schuf. Im amerikanischen Film konnte relativ sachlich über die körperbehinderten Kriegsveteranen berichtet werden, da sie zu den ehrenhaften Siegern gehörten.

Die Soldaten kehrten aus einem Krieg zurück, in dem sie auf der guten Seite gekämpft hatten. Kameradschaft konnte auch nach Kriegsende weiterhin die Grundlage gegenseitiger Wertschätzung bilden, und zwar der versehrten wie der unversehrten Soldaten. Im typischen deutschen Nachkriegsfilm hingegen konnten die deutschen Kriegskrüppel nicht als Heroen dargestellt werden, da sie in ein Land zurückkehrten, dass sich der schlimmsten Verbrechen und des Völkermords schuldig gemacht hatte. „Jede Sympathie hätte sofort Erinnerungen an die grauenvollen Kriegsverbrechen geweckt“, so Poore.

Das habe sich in der kulturellen Verarbeitung der Behindertenthematik niedergeschlagen. Während es über 500 amerikanische Filme gebe, in denen behinderte Personen dargestellt werden, seien es in Deutschland nur sehr wenige. Vor allem fehle die Darstellung derartig Behinderter, welche von den Nazis als „lebensunwertes Leben“ eingestuft wurden. Das Thema sei wegen der negativen Assoziationen zur Nazi-Euthanasie in Deutschland noch lange Zeit mit einem Tabu behaftet gewesen. Dadurch hätten sich auch in der so genannten Trümmerliteratur der Nachkriegszeit Stereotype von Behinderten entwickeln können, die hilfsbedürftige Außenseiter darstellten, welche nicht fähig sind, aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Das Werk Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“ zeige dies eindrucksvoll.

Die Integration behinderter Menschen in die Gesellschaft sei jedoch ein Indikator für das demokratische Selbstbewusstsein, so Poore. Der Wissenschaftlerin zufolge spiegele sich die demokratische Geschichte der Behinderten auch in den unterschiedlichen Positionen in der heutige Bioethikdebatte wieder. In Amerika scheinen grundlegende ethische Fragen im Umgang mit der modernen Biomedizin viel pragmatischer gelöst zu werden.

Es sei zwar einerseits gut, dass in Deutschland die Debatte so ernsthaft und auf einem so hohen Niveau geführt wird. Andererseits findet die amerikanische Wissenschaftlerin die bioethische Diskussion hierzulande oft auch überladen. „Die ganze Debatte betont die medizinischen Aspekte immer noch viel zu sehr und geht damit an den realen Lebensbedingungen und dem Thema Integration von Behinderung in die Gesellschaft vorbei, ja wirkt dem manchmal sogar entgegen“, gibt die Forscherin zu bedenken. „Aus der Perspektive, dass nur 3 bis 5 Prozent aller Behinderungen genetisch bedingt sind, erscheint die oft beschworene Gefahr einer Eugenik „von unten“ durch die Möglichkeiten der modernen Medizin als irrelevant.“

Einen zusätzlichen Aspekt bringt Anne Waldschmidt von der Evangelischen Fachhochschule Nürnberg ein: „Die Ethisierung dieser Debatte hat für mich vor allem auch strategische Hintergründe. Die Vision des genetisch modifizierten Menschen ist vor allem deshalb so machtwirksam, weil die Biotechnologie mit ihren Versuchen, das vermeintlich Imperfekte abzuschaffen, sehr viel Geld verdient.“ Für die Sozialwissenschaftlerin geht es dabei eben nicht mehr nur um die Ethik, sondern auch um Interessen wie Patente, Profite und wissenschaftliche Strategien.

Die Wissenschaftsrichtung Disability-Studies will dem entgegenwirken: „Wir wollen das kritische Potenzial gegenüber den jetzigen Leitwissenschaften Lebenswissenschaften und Medizin stärken und somit auch in Deutschland einen Gegendiskurs etablieren“, so Waldschmidt, die auch die Arbeitsgemeinschaft „Disability-Studies in Deutschland“ leitet, die kürzlich an der Universität Dortmund gegründet wurde.

Ähnlich wie die Gender-Studies die Geschlechterrollen untersuchen, forschen die Disability-Studies über Behinderung aus einer geschichtlichen Perspektive. Durch eine genaue Untersuchung der Geschichte der Behinderung zeigen sie, wie das, was wir „normal“ nennen, bei näherer Untersuchung in Widersprüche zerfällt: In den Freakshows des Spätmittelalters wurden Behinderte noch als Stars gefeiert, und ihre Abnormalität faszinierte die Menschen. Erst im Zuge der IQ-Tests und der Eugenikforschung wurden sie als „mangelhaft“ und „imperfekt“ degradiert und fielen der nach Perfektion strebenden Gesellschaft zum Opfer.

Während das Fachgebiet Behinderung in Deutschland viel zu lange nur von Spezialisten, wie Heil-, Sonder- und Behindertenpädagogen besetzt war, haben sich die Disability-Studies in Amerika schon Anfang der 80er-Jahre etablieren können. Die Wissenschaftsrichtung, vor einem Jahr erstmalig in Deutschland auf einer Tagung des Dresdner Hygienemuseums vorgestellt, zog auf der internationalen Tagung ein erstes Resümee.

Hier diskutierten Geistes- und Kulturwissenschaftler aus Deutschland und den USA über Behinderung und die gesellschaftliche Macht des Phantoms Perfektion. „Nur durch die ständige Jagd nach Perfektion wird die Idee des Imperfekten genährt“, erklärte Waldschmidt. Das Humangenomprojekt sei aus diesem Blickwinkel eindeutig ein Produkt der Überflussgesellschaft.

Wohin das führen kann, zeigte zum Beispiel kürzlich die künstliche Selektion eines tauben Kindes in Amerika. Die Amerikanerinnen Duchesneau und ihre lesbische Partnerin McCulough ließen sich durch künstliche Befruchtung eines Samenspenders, der in der fünften Generation taub war, ein gehörloses Wunschkind „machen“. Hier wurde der Spieß umgedreht: Die moderne Biotechnologie ermöglichte die Herstellung des vermeintlich Imperfekten. Zu allererst müssen wir offensichtlich – im Sinne des Tübinger Theologen Dietmar Mieth – klären, wie die Gesellschaft, in der wir leben wollen, aussehen soll, bevor wir die Möglichkeiten der modernen Biomedizin einsetzen oder reglementieren können.