Der Aktivist

aus New York KIRSTEN GRIESHABER

Es ist ein sonniger Morgen, kurz vor neun Uhr. Die meisten Schülerinnen und Schüler sind noch gar nicht richtig wach, als sie in die Aula der New Dorp High School in New York strömen. Gelangweilt setzen sie sich auf ihre Plätze. Joey DiPaolo bemerken sie erst, als er schon auf der Bühne steht und sie anspricht. In der linken Hand hält der 22-Jährige ein Mikrofon, die Rechte hat er cool in der Hosentasche seiner weiten Jeans vergraben. Während er sich mit der Hand durchs Haar fährt und einzelne, blondgefärbte Strähnen zwischen seinen Fingern dreht, fragt er die Schüler: „Was könnte so wichtig sein, dass deswegen euer Unterricht ausfällt?“ Neugierig gucken einige Jugendliche hinüber. „Ich habe Aids“, erklärt er. Und plötzlich sind die Schüler hellwach.

Joey DiPaolo ist seit seinem vierten Lebensjahr HIV-positiv. Als er 1984 wegen eines Herzfehlers operiert wurde, erhielt er eine Bluttransfusion, die mit Aidsviren verseucht war. Seitdem kämpft ergegen das tödliche Virus in seinem Körper. Seit über zehn Jahren setzt er sich medienwirksam für die gesellschaftliche Integration aidskranker Menschen ein.

Öffentlichkeit suchen

Mit elf Jahren ging er zum ersten Mal an die Öffentlichkeit, um über seine Krankheit zu sprechen. Regelmäßig besucht er Schulen überall in den USA, um Jugendliche über Aids aufzuklären. Seine Botschaft ist stets die gleiche: „Schützt euch vor Aids. Teilt niemals eine Nadel, wenn ihr Drogen spritzt, und benutzt beim Sex immer Kondome.“

Um die Gefahren einer Ansteckung zu veranschaulichen, zeigt Joey DiPaolo seinem Publikum eine Diareihe über Aids. Porträts von ausgemergelten Patienten wechseln sich ab mit Nahaufnahmen von aufgedunsenen Zungen und pilzbefallenen Lippen. Auf einem der Dias ist ein Fuß abgebildet, der vollständig mit gelblich-grünen Eiterabszessen überzogen ist. Mehrere Mädchen halten sich die Augen zu.

Um die verstörten Schüler zu beruhigen, erzählt Joey, dass er sich persönlich dank neuentwickelter Medikamente sehr gesund fühle. Während er den Jugendlichen über die Ausbreitung der Aidsepidemie in den letzten 20 Jahren berichtet, meldet sich ein Mädchen in der dritten Reihe und fragt: „Darf ich dir einen Kuss geben?“ Unter dem Gejohle ihrer Schulkameraden kommt sie auf die Bühne, umarmt den Gast und küsst ihn. Joey DiPaolo grinst und zwinkert seinem begeisterten Publikum zu. „Vielen Dank für euren Beifall. Doch ihr ahnt nicht, wie gern ich all dies gegen ein Leben ohne Aids eintauschen würde.“

Als Joey DiPaolo wieder zu Hause ist, sieht man ihm die Anstrengung des Vormittags deutlich an. Müde sitzt er mit seiner Mutter Carol DiPaolo in der Küche und trinkt Kakao. Der strahlende Sonnyboy, der eben noch die Schüler mit seinen Witzen zum Lachen gebracht hat, ist kaum wiederzuerkennen. Mit hängenden Schultern sitzt er am Tisch und wirkt sehr verletzlich. Zögernd sagt er: „Natürlich ist es schmeichelhaft, von anderen Jugendlichen wie ein Popstar gefeiert zu werden. Aber ich merke immer wieder, dass meine Zuhörer nicht nachvollziehen können, wie schwierig ein Leben mit Aids ist.

Joeys Mutter Carol erinnert sich noch gut an den Tag, an dem die Ärzte ihr mitteilten, dass ihr Sohn HIV-positiv sei. „Es war der schwärzeste Tag meines Lebens“, erzählt sie. „Ich wusste überhaupt nichts über Aids, nur dass mein Sohn sterben würde. Ich hatte solche Angst, dass ich ihn eines Morgens tot in seinem Bett finden würde. In meinen Gedanken sah ich Joey bereits in einem kleinen, weißen Kindersarg liegen.“ Trotz der scheinbar aussichtslosen Lage begann sie, um das Leben ihres Sohnes zu kämpfen. Da sich die Ärzte weigerten, Joey Medikamente zu verschreiben, die offiziell noch nicht für HIV-positive Kinder zugelassen waren, nahm sie Kontakt mit der Schwulen-Community in New York auf und besorgte die Pharmaka dort illegal.

Dennoch verschlimmerte sich Joeys Gesundheitszustand. Im Februar 1990 erkrankte er an einer Lungenentzündung, seine Nieren versagten, er fiel ins Koma. Die Ärzte sagten, falls Joey jemals wieder aus dem Koma erwachen würde, müssten seine Arme und Beine amputiert werden.

Doch Joey DiPaolo überlebte, und er verlor weder Arme noch Beine. Dank neuer Medikamente besserte sich sein Gesundheitszustand stetig. Aber sein Leben hat sich verändert, seit er fast an Aids gestorben wäre. „Ich wollte nicht länger ein Geheimnis aus meiner Krankheit machen“, erzählt Joey. „Ich war es leid, immer zu lügen, meinen Freunden zu erzählen, dass ich Krebs, Leukämie oder sonstwas hätte.“

Mit elf Jahren wandte der Junge sich daher an die Öffentlichkeit. Am 11. September 1990 titelte die New Yorker Zeitung Newsday: „Jetzt weiß meine Schule, dass ich Aids habe – Joey DiPaolo verrät sein großes Geheimnis.“

Die folgenden Wochen waren ein Albtraum für die ganze Familie. Joey bekommt noch heute eine Gänsehaut, wenn er an die Reaktionen seiner Mitschüler denkt. Zu hunderten demonstrierten sie vor der Schule und versuchten, seinen Rausschmiss zu erzwingen. Lehrer weigerten sich, den Jungen zu unterrichten, beim Sport wies man ihm eine separate Umkleidekabine zu. Erst als die Gesundheitsbehörden eingriffen und Beamte zur Aufklärungsarbeit an die Schule schickten, entspannte sich die Situation. Joey konnte wieder am Unterricht teilnehmen.

Disziplin üben

Sein offensiver Umgang mit der eigenen Krankheit weckte das Interesse der Medien und von Aidsinitiativen. Mit nur elf Jahren wird er zu einem der bekanntesten Sprecher der Aidsbewegung in den Vereinigten Staaten. Zusammen mit seiner Mutter gründet er die Joey DiPaolo Aids Foundation, die kostenlose Ferienaufenthalte für aidskranke Kinder anbietet.

Mit eiserner Disziplin bekämpft er jeden Tag aufs Neue das Virus in seinem Körper. Er darf weder rauchen noch Alkohol trinken oder Drogen nehmen. Bei seiner Ernährung muss er sich strikt an die Anweisungen der Ärzte halten. Hamburger, Pommes und sonstiges Junk-Food sind für ihn tabu. Jeden Tag schluckt er bis zu 26 verschiedene Tabletten, die Nebenwirkungen wie Übelkeit, Albträume oder Muskelschwund haben. Seine Medikamente sollen die Anzahl der Aidsviren in seinem Körper so gering wie möglich halten. Zugleich soll sein Immunsystem gestärkt werden, das von den Aidsviren angegriffen wird.

Die Medien feiern Joey DiPaolo als Helden, und die Aidsbewegung lobt seinen vorbildlichen Umgang mit der Krankheit. Doch nach neun Jahren strikter Disziplin kommt es 1999 zur Krise. Er ist zu diesem Zeitpunkt 19 Jahre alt und kann den Druck und die Einschränkungen nicht mehr ertragen. Er hört auf, seine Medikamente zu schlucken, Tabletten spült er heimlich ins Klo. Die Folgen sind dramatisch. Innerhalb kurzer Zeit nimmt er mehr als zehn Kilo ab. Er ist ständig müde und die Zahl der Viren in seinem Körper steigt explosionsartig an.

Seine Verweigerungshaltung bezahlt er beinahe mit dem Leben. Doch er hat Glück, denn als die Ärzte ihm noch einmal ins Gewissen reden und ihn von der Notwendigkeit der Medikamenteneinnahme überzeugen, hat sein Körper noch keine Resistenz gegen deren Wirkstoffe entwickelt.

Joey DiPaolo redet offen über diese Krise. Aber auf die Gründe angesprochen, verschließt er sich, nur sein Gesichtsausdruck verrät, dass er immer noch Angst hat. Er hat gelernt, dass ihm das Virus keine Fehler verzeiht. Seine Erklärung für die gefährliche Auszeit ist plausibel: „Ich wollte einfach wie ein ganz normaler Teenager leben und nicht immer an Aids denken.“

Nähe finden

Zur Sehnsucht nach dem ganz normalen Leben gehörte für ihn immer auch der Wunsch nach einer Freundin. Seit einem halben Jahr ist er nun mit der 16-jährigen Patricia zusammen. Berührungsängste hat seine Freundin nicht. „Dass man Aids nicht vom Küssen oder Streicheln bekommt, weiß doch wohl jeder“, erklärt sie. Anders sieht es beim Thema Sex aus. Die beiden sagen, sie würden gerne miteinander schlafen. Aber er erklärt: „Sex ist nicht drin, auch nicht mit Kondomen. Ich will Patricia auf gar keinen Fall anstecken.“

Was die Zukunft für Joey DiPaolo bringen wird, ist ungewiss. Aids ist unheilbar. Nur seine Mutter Carol spricht aus, was alle Angehörigen von Aidskranken am meisten fürchten. „Wir leben immer in der Angst, dass unsere Kinder früher oder später doch an Aids sterben werden.“ Er selbst will nicht über den Tod sprechen. Fragen nach seiner Zukunft weicht er aus. Erst nach langem Zögern überwindet er sich schließlich und verrät seinen großen Traum. Unsicher, fast als seien solche Gedanken in seiner Situation verboten, sagt er: „Eines Tages würde ich gern heiraten und eine Familie gründen.“ Für einen Moment schweigt er. Dann sagt er: „Und wenn ich keine eigenen Kinder haben kann, kann ich ja welche adoptieren.“