Eine starke Frau von heute

Bis aufs Skelett gehäutetes Trauerspiel – und Emilia bekommt noch eine Chance: Michael Thalheimer war mit seiner Berliner Inszenierung von „Emilia Galotti“ am Thalia zu Gast

Briefe fallen zu Boden, Hände greifen ins Leere, Worte verhallen im Raum, Verlorene tanzen Walzer zur Musik aus Wong Kar Weis Film In the Mood for Love. Das Leben – ein trister Hong Kong-Film, das menschliche Glück auf Erden verbaut. Michael Thalheimer bleibt seinem gepflegten Pessimismus auch in seiner Version von Lessings Emilia Galotti treu. Die preisgekrönte Inszenierung vom Deutschen Theater Berlin wurde auch am Hamburger Thalia Theater stürmisch gefeiert.

Das Hamburger Theater ist zu einer Art künstlerischen Heimat für Thalheimer geworden. Mit Schillers Kabale und Liebe hat er sich hier jüngst endgültig als Präparator bürgerlicher Trauerspiele empfohlen. Dabei interessiert ihn auch an Lessing das Bürgerliche und Aufklärerische am wenigsten, der schlimme Vater, der das Lebensglück seiner Tochter mit Standesschranken verbaut. Er verwandelt es in ein Trauerspiel selbstsüchtiger Individuen – und häutet es bis aufs Skelett.

Emilia Galotti ist eine reine, verführte Unschuld und als solche eine Vorgängerin von Luise Millerin aus Kabale und Liebe. Thalheimer verhandelt Emilias Schicksal mit nur 80 Minuten auf knapper Spielfilmlänge. Sein Bühnen- und Kostümbildner Olaf Altmann hat dazu eine hölzerne Mischung aus hohem Kirchenraum und parkettiertem Tanzsaal errichtet. In diesen Raum hinein hallen die von Bert Wrede arrangierten Walzerklänge als Endlosschleife.

Selten sind mehr als zwei Figuren auf der Bildfläche, sie stehen einsam mit ihren Sehnsüchten, und in ihren verzerrten Gesichtern äußern sich ihre verhinderten Gefühlswelten. Bei Sven Lehmann ist der Prinz ein schwitzendes Nervenbündel. Seine Liebe zur Bürgertochter Emilia Galotti ist nur verkrampfte Gier nach einem Besitz, einer Projektion. Doch weil sich die Unschuld dem Grafen Appiani versprochen hat, muss der von Ingo Hülsmann als heiserer Schleimer gebotene Kammerdiener Marinelli als Mörder herhalten.

Jede Figur trägt ihr Bekenntnis mit sich, allzeit bereit, es als kondensierten Text in Sprachsalven abzufeuern. Das Licht trübt ein, der Raum wird vollends zur Kirche, hier findet die Liebe ihr Opfer. Bei Thalheimer bekommt Emilia noch eine Chance. Er zeigt nicht ihr Ende, in dem sie vom Vater gerächt wird. Sie bleibt im weißen Kleid allein zurück, eine starke, heutige Frau und wird von walzenden Tanzpaaren hinweggetragen Ein rares Vergnügen für Kopf und Sinne.

Annette Stiekele