Der Satan hat den Blues

Mit maximaler gestischer Privatheit schlägt Frank Castorf einen Ton an, der auf der Bühne seinesgleichen sucht: Seine Inszenierung von Michail Bulgakows „Der Meister und Margarita“ für die Wiener Festwochen kommt teuflisch gut

Die Welt ist beim Teufel. Der Meister lädt zum Satansball. Fünf Stunden währt die Chose, danach ist nichts besser, doch alles ist gut. Verdammt, ja: teuflisch gut.

Drei Jahre, drei Castorfs, drei russische Romane: Alljährlich beschenken die Wiener Festwochen ihr Publikum mit einer neuen Arbeit des Meisters aus Berlin. Im Jahre 3 haben die Helden neuerdings Bulgakow statt Dostojewski und den Blues im Gepäck. Mit „Der Meister und Margarita“ und satanischer Grandezza laden sie zur teuflischen Party. Fünf Stunden steht die Zeit still, wenn der Meister es will. Und er will. Zwei Reihen roter Glühbirnen umlaufen die Fassade des Bulgakow-Bert-Neumann-Bungalows samt der Videowand auf dem Dach und tauchen den Abend in schummriges Nachtclub-Dunkel. Verspiegelte Wände, Glasfronten. Ventilatoren drehen sich träge, Castorfs Moskau liegt irgendwo zwischen Reeperbahn und Memphis. Auf Barhockern sitzen übernächtigt die Müden der Bühne. Ein Wort zieht das andere hervor. Man lästert Jesus, erklärt die Welt bei Bier und Wodka.

Echtzeit, Gelassenheit, maximale gestische Privatheit: Vom ersten Moment an schlägt Castorf einen Ton an, der auf der Bühne seinesgleichen sucht: Anders als die Wartehaltungs-Langsamkeit der Marthaler-Welt in ihrer allegorischen Qualität, installiert Frank Castorf den gelassenen Rhythmus nächtlicher Real-Verlangsamung auf der Bühne. Schafft, unterstützt von einer geradezu satanisch gelungenen Lichtregie und seiner nostalgischen LP-Sammlung, Realmomente, wie sie allenfalls im Film bisweilen glücken.

Die Realität allerdings dankt ihre Entstehung der Illusion. „I want to believe“ leuchtet ein Neon-Schriftzug das Motto des Spiels emblematisch ins Dunkel. Der Satz gilt bei Castorf weniger Gott als vielmehr der Ästhetik: Castorf findet Realität, wo er den Bühnenrealismus hinter sich lässt. Mehr und mehr wird er zum Joyce der Szene, der Sprachen, Versatzstücke, Überlagerungen stapelt, aus denen die Welt in ihrer unendlichen Verwirrung blinzelt. Castorf erzählt Kompliziertheit wie Schönheit dieser verkommenen Welt in Körpern. Weshalb er der Kamera zur Verfremdung, zur Erweiterung der perspektivischen Facetten notwendig bedarf. Immer größer wird der Raum der Kamera, immer virtuoser die Weise, in der er sie handhabt.

Nahezu die Hälfte des Abends lang bleibt die rot beleuchtete Bühne gespenstisch leer. Verschwinden die Darsteller hinter den verspiegelten Wänden des Bungalows, ausschnittsweise sichtbar im Video. Über die Auslassungen erzählt Castorf Gegenwart. Und zeitgleich Bulgakows Roman. Der Textmassen von „DerMeister und Margarita“ bedient er sich, gemeinsam mit seinen Schauspielern, wie eines grandiosen Steinbruchs, kantet also die Brocken auf die Bühne – und erzählt, dermaßen fragmentiert, doch die Handlung des Romans: vom Teufel, der Moskau heimsucht und dort einen verrotteten Literaturbetrieb vorfindet. Allein zwei Liebende verschont der sympathische Satan: den Meister, einen vom Betrieb verkannten Literaten, der in seinem Lebenswerk, einem Roman über Pontius Pilatus, die Macht auf Liebe – Jesus – treffen lässt. Und Margarita, die liebende Frau.

Martin Wuttke ist der Meister, ein weiterer Spross in jener Dynastie erfolgloser Dichter, der er mit Iwan Petrowitsch in „Erniedrigte und Beleidigte“ schon Leib und Stimme lieh. Ein grandioser Untergeher ohne Existenzmut. Satan Hübchen beherrscht die rot glimmende Halbwelt-Bühne in der souverän entspannten Gelassenheit des Hausherrn, gefolgt vom aasigen Ganovengespann Hendrik Arnst/Marc Hosemann. Sie alle haben den Blues in der Trägheit der schwülen Sommernacht. Wie überhaupt das ganze, unvergleichliche, unübertroffene, teuflisch gute Castorf-Ensemble. Dem – einziger Wermutstropfen in Bulgakows verkommener Manneswelt – allein die Hexen-Crew des Volksbühnenteams fehlt. Übrig bleibt Kathrin Angerer, als Margarita weniger furios denn im gewohnten Reigen starker Frauen, kindlicher, koketter, immer wieder umwerfend dennoch. Am Ende werden drei Viertel der Zuschauer gegangen sein und auch sonst ist alles zu Ende. Die Rollos gehen runter. Musik – „Sweet Nothing“ – das war’s. Sweet, sweet nothing. Nebel. Morgengrauen. Satansabritt. CORNELIA NIEDERMEIER