„Hysterische Sehnsucht nach Realität“

Weil die modernen Menschen doch alle GPS-Orientierungssysteme in ihren Autos haben, ist ein über die Städte Köln, Bonn, Düsseldorf und Duisburg vernetztes Festival wie „Theater der Welt“ kein Problem: Gespräch mit Matthias Lilienthal, Programmdirektor des Theaterfests, das am Freitag startet

Interview KATRIN BETTINA MÜLLER

taz: Wie sind Sie von der Dramaturgie der Volksbühne Berlin zu „Theater der Welt“ im Rheinland gekommen?

Matthias Lilienthal: Nach dem Ende meiner Zeit an der Volksbühne habe ich einfach mal gesagt, ich würde gern für ein Jahr nach Brasilien gehen oder ein Festival machen. Über Arbeit andere Länder kennen zu lernen, das finde ich lustig. Mir als Tourist andere Länder anzueignen, geht mir auf den Wecker. Da kam das Angebot von Theater der Welt. Für mich sind Duisburg und Köln genauso fremd wie Singapur und Buenos Aires.

Das Festival findet in vier Städten statt: Köln, Bonn, Düsseldorf, Duisburg. Verlangt das nicht verkehrstechnisch gesehen eine komplizierte Logistik?

Die modernen Menschen haben doch alle GPS-Orientierungssysteme in den Autos (lacht). Ach, Quatsch. Das Beste in Western West Germany sind Fahrrad und Bahn. Es ist gut möglich, drei, vier Produktionen an einem Tag in einer Stadt zu sehen und am nächsten Tag in einer anderen.

Die kanadische Choreografin Sarah Chase arbeitet in privaten Räumen in allen vier Städten, in Duisburg entwerfen fast alle Regisseure eine Arbeit für eine Wohnung. Der Schweizer Regisseur Hans-Peter Lietscher erfindet eine Biografie, die sich auf die lokale Geschichte bezieht und auf einem Schiff auf dem Rhein präsentiert wird. Ist Theater der Welt ein Vergrößerungsglas für einen Blick auf das Rheinland?

Es gibt zwei Ebenen im Programm. Die eine hat mit internationalen Produktionen zu tun, eingeladen in die großen Theaterhäuser der Städte. Auf der anderen Seite stehen Projekte, die sehr auf die einzelnen Städte eingehen und sich in die Lokalität schrauben.

Ist die Beschwörung des Lokalen notwendig, um die Angst vor einer Globalisierung in der Kultur zu nehmen?

Vielleicht auch. Der Titel Theater der Welt ist ein großartiges Label, aber wenn ich Leuten in Buenos Aires oder São Paulo erzählt habe, dass ich für das theatre of the world arbeite, hätte ich auch sagen können: „Entschuldigung, ich bin ein arrogantes deutsches Arschloch.“ Das ist man in dem Moment, in dem man behauptet zu wissen, was die Welt ist und was Theater ist. Ich weiß weder, was Theater ist, noch was die Welt ist. Natürlich bin ich mir der problematischen Rolle bewusst, wenn ein weißhäutiger, in Berlin geborener Mensch durch Asien, Südamerika und sonstwo reist und meint, dort im Vorbeigehen kulturelle Zusammenhänge beurteilen zu können.

Sie hatten also nicht den Anspruch, das beste Theater der Welt zu entdecken?

Die Kategorien gut oder schlecht haben sowieso keine Gültigkeit mehr. Für mich hat Theaterarbeit extrem viel mit Konzepten zu tun: Ich hoffe, dass Theater der Welt ein bisschen weniger Theatertreffen und ein bisschen mehr documenta ist.

Das Stück, mit dem das Festival eröffnet, „Apocalipse 1,11“, kommt aus Brasilien.

Es entstand aus Anlass eines Massakers an 111 Gefangenen in São Paulo. Das ist von einem 35-jährigen, schwulen Regisseur, Antônio Araújo: Er hat die Offenbarung des Johannes genommen und daraus ein Stationendrama, ein Mysterienspiel gewonnen. Das ist eine Art von Lektüre, die zu drei Vierteln wunderbare Neuentdeckungen und zu einem Viertel bestimmte Fehler macht.

In Köln wird „Apocalipse 1,11“ im Gefängnis Ossendorf aufgeführt. Erzeugt das nicht eine falsche Sensation der „location“?

Natürlich ist das ein hochsensibler Prozess, man muss wissen, welchem Voyeurismus man da Zucker gibt. Als ich über den Regisseur Roland Brus, der in Berlin im Gefängnis Theater inszeniert hat, das erste Mal dahin kam, fand ich das auch eine verstörende Erfahrung. Aber in dem brasilianischen Projekt ist der Ort thematisch begründet. Wir geben auch eine Vorstellung für die Gefangenen. In „Apocalipse 1,11“ spielt die Suche nach Ethik eine große Rolle, und das ist ein zentrales Thema des Festivals. Das geht weiter in Produktionen wie „Die Bakchen“ von Johan Simons, der einfach eine Utopie verwirklicht, indem 19 Syrer und 25 Holländer zusammenarbeiten. Der Stil der Aufführung wird abgenommen bei den Dionysos-Gesängen der syrischen Musiker und in die Gegenwart der Aufführung transportiert. Dadurch bekommt die Inszenierung eine wunderbare Verspieltheit und vermeidet gerade die vermeintliche Ekstase des antiken Dramas. Außerdem hat sie keine Scheu, sich zu einem bestimmten Kitsch zu bekennen. Das ist ein Weltentwurf, den ich absolut wichtig finde.

Wieso ist das eine Utopie?

Weil es eine gelebte Gemeinschaft über sechs Wochen ist und die Zeit der Aufführungen; weil das Zusammenleben der verschiedenen Nationen immer mehr zu einem Wunsch denn zu einer Realität wird.

Verbindet sich damit der neue Begriff des Politischen, den Sie für das Theater in Anspruch nehmen wollen?

Mir ist der Begriff Ethik lieber. Beim Politischen denkt man immer an 60er-, 70er-Jahre und die Marxismus-Leninismus-Diskussionen. Das ist absolut nicht gemeint. Irgendwelche Weisheiten theatralisch zu illustrieren und zu versenden interessiert mich überhaupt nicht. Das ist furchtbar. Es dreht sich darum, unüberschaubare Anordnungen loszutreten und sich von den Ergebnissen überraschen zu lassen – das meine ich mit der Suche nach Ethik.

Viel zu hören war schon von dem Rimini-Projekt „Deutschland 2“, das im alten Bundestag im Bonn eine Sitzung aus dem Bundestag in Berlin nachspielen wollte. Das kann jetzt durch den Einspruch des Hausherrn Wolfgang Thierse nicht im alten Bundestag stattfinden.

Es findet jetzt in der Halle Beuel 1 statt. Sie können dort mindestens fünfzehn Stunden Volksvertretung erleben, die dem Volk zurückgegeben ist. Die vier Regisseure vom Rimini-Protokoll denken über die Realität nach wie über ein Kopierverfahren. Für die ist eine nachgestellte Bundestagssitzung eher wie eine Computerdatei, die sie kopieren, als dass es ihnen um das Nachdenken über einen bestimmten Politikbegriff geht. Das hat bei Herrn Thierse scheinbar die Spekulation ins Uferlose schießen lassen.

Wir bekommen Bild und Ton über Fernsehen, geben das Bonner Bürgern über Kopfhörer in die Ohren, und die sprechen das nach – dieses Durchfließen der Texte durch die Körper verhindert irgendeine satirische Distanz. Da entsteht so etwas wie eine unwillkürliche Écriture. Viele Bonner Bürger, die sich beteiligen wollen, haben ein affektives Verhältnis zur Politik; die wollten gerne ihre Lieblingspolitiker spielen. Das hat nichts mehr von zeitgeistiger Politikverachtung, der ich mich selbst manchmal hingebe.

Relativ spät erst haben Sie die „Aktion 18“ von Christoph Schlingensief dazugeholt, der sich mit einem Wahlkampfmobil in den FDP-Wahlkampf mischt. Glauben Sie, dass man mit solchen offenen Versuchsanordnungen, wo man nicht genau weiß, wie es läuft, dem Politischen tatsächlich näher kommt als mit fertigen Stücken?

Das interessiert mich mehr. Ich habe eine hysterische Sehnsucht nach Realität, und das Festival erlaubt den Luxus, rauszugehen in die Stadt. Aber auch innerhalb des Festivals gibt es die Repetition von Klassik und neuer Dramatik: Mit der „Auslöschung“ nach Thomas Bernhard von dem polnischen Regisseur Krystian Lupa, mit „L. King of Pain“ von Luk Perceval nach Lear oder den „Bakchen“. Ein Festival wird reich, wenn es die Grätsche dazwischen aufmacht.

Einige Stücke haben das Thema erfundene Lebensläufe und gefakte Authentizität. Ist das eine Reaktion auf allzu viel Reality-TV?

In den 70er-Jahren war das Thema Biografie ganz eng mit Authentizität verbunden. Dann gab es in den 90er-Jahren das Spiel, sich Identität in einer Art Patchwork zusammenzustellen. Jetzt habe ich das Gefühl, dass die Konstitution des Ich, des Subjekts längst flöten gegangen ist. Da gibt es jetzt manchmal die Sehnsucht, die eigene Biografie zu erfinden. Davon leben erfolgreiche Serials wie Ally McBeal oder Seinsfield. Jede Talkshow ist auf der Suche nach diesem Phänomen, und man fragt sich, warum da immer nur Schauspieler rumsitzen, die eigentlich authentisch gar nichts erlebt haben. Da finde ich es schön, dass man begonnen hat, die Wahrheit über die Lüge zu finden, oder über die Imagination. Bei einem gleichzeitigen Gefühl der Vergeblichkeit. Das ist mir als Phänomen in „Recent Experiences“ von Nadia Ross und Jacob Wren (Toronto), bei Hans-Peter Lietscher (Schweiz), bei Sarah Chase (Toronto), bei „Three Posters“ (aus Beirut) aufgefallen. Deshalb gibt es auch die Diskussion „My biography is invented“.

Am Ende des Programms steht das thematische Wochenende „Kraft der Negation“, das dann gleich weiter nach Berlin gereicht wird.

Die Form des thematischen Wochenendes haben wir an der Volksbühne Berlin erfunden. Theater ist manchmal ein schwerer Lastkahn, der sich voll beladen den Rhein hochquält von Rotterdam nach Basel, und wir haben nach kleinen, schnellen, wendigen Booten gesucht. Seit anderthalb Jahren habe ich Diedrich Diederichsen bequatscht, lass uns das Thema der Globalisierungsgegner aufnehmen – irgendwie muss man sich unter dem Label „Theater der Welt“ zur Globalisierung verhalten. Sein Vorschlag ist die „Kraft der Negation“: Auf der einen Seite beschreibt er, dass Demonstranten und die Attac-Bewegung in die Speichen greifen und ein Rad anhalten – aber bis zum heutigen Tage auch nicht sagen, wohin. Auf der anderen Seite steckt in der Verweigerung der Ideologie und der ideologischen Ziele eine große Intelligenz. Die Verweigerungshaltung hat auch viel mit Stil und Dandytum zu tun und bietet sich für falsche und richtige Identifikationen an.

Geht es Ihnen mit dem Festival auch darum, für das Theater eine Diskurshoheit wiederzugewinnen?

Ja. Ich fände es ganz gut, wenn wir den Mund etwas mehr aufmachten. Politik und Ökonomie haben dermaßen abgewirtschaftet, dass Intellektuelle, Theater- und Filmemacher ruhig wieder ihr Maul aufreißen können. Es gibt keinen Grund, sich von dem hilflosen Laborieren der anderen einschüchtern zu lassen.

Theater der Welt 2002 in Köln, Bonn, Düsseldorf und Duisburg, 21. bis 30. Juni. Programm unter www.theaterderwelt.de