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Fidel hatte vielleicht doch Recht

Jan Stage berichtet seit vierzig Jahren mal melancholisch, mal abgeklärt und oft mitfühlend von den Krisen und vom Alltag der einfachen Leute

Auf seinen Reisen durch die Welt geht der Däne Jan Stage gern zu Gräbern. „Gräber sind etwas Besonderes. Ich habe auf das Grab Salvador Allendes gestarrt und in ein feuchtes Loch in Bolivien, in das man die Überreste von Ernesto Guevara, besser bekannt als Che, geworfen hatte. Ich habe in einer Schlange am Roten Platz gestanden, um durch das Mausoleum mit Lenins einbalsamierter Leiche zu defilieren. Sadats Grab in der Nähe von Kairo. Jitzhak Rabins Grab. Baruch Goldsteins Grab. Diese stummen Orte sagen mir etwas, denn sie geben keine Antworten.“

Dieses Schweigen an den Gräbern hat Ähnlichkeit mit dem Schweigen, das einen während der Lektüre von Stages Reportagen überkommt. Man lauscht seinen Geschichten aus dem Kongo, dem Kosovo, aus Mexiko und Bosnien, Algerien, Kuba, Afghanistan, den besetzten Autonomiegebieten Palästinas, man verstummt und wird süchtig.

Süchtig nach den Geschichten, die Stage von den Welten zu erzählen weiß, die er meistens mehr als einmal besucht. Süchtig nach seinen Beobachtungen und Erinnerungen, nach seinen Fragen, die selten Antworten bekommen; süchtig auch nach seinem melancholischen, manchmal abgeklärten, oft mitfühlenden, zeitweilig resignierten und immer wieder neugierig aufmerksamen Blick auf das, was er uns Daheimgebliebenen erzählen möchte. Meistens sind es Krisenzeiten in Krisengebieten, die Stage beschreibt. In dieser Sammlung ist das dunkelste, weil undurchdringlichste und unverständlichste Niemandsland der Kongo – hier gibt es einfach nichts mehr, was einem vertraut erscheinen könnte:

„Der Bursche ist knapp 15 Jahre alt. Er trägt eine Art Uniformjacke, die er wahrscheinlich bei der Armee gemaust hat. […] An sich kein besonders bedrohlicher Anblick. Mit der anderen Hand, die er bis jetzt auf dem Rücken verborgen hat, legt er eine Mörsergranate vom Kaliber 81 mm auf unsere Kühlerhaube. ‚Da haben wir tatsächlich einen Mayi-Mayi‘, stellt mein Begleiter fest. ‚Er glaubt, dass er aus Wasser besteht und deshalb unsterblich ist. Willkommen in Afrika.‘“

In Afrika, so kommt Stage zu der Erkenntnis, gibt es keine Probleme. „Es gibt nur Zustände, die von 10 Sekunden bis zu einem ganzen Jahrhundert dauern können.“ Stage ist keiner jener unberührten „I’ve seen it all“-Kämpen. Er ringt immer noch nach all den Jahrzehnten des Reisens um eine Wahrheit. Bei den Zapatisten in Chiapas findet er sie so wenig wie bei den Gringos von Baja California, die wie einst bei Carlos Fuentes in Mexiko sterben möchten. Aber plötzlich findet er im Hotel von La Paz Radio Havanna und hört sich stundenlange alte Castro-Reden an. „Und während ich mich auf das konzentrierte, was diese wahnsinnige Tropen-Sozialist zu sagen hatte, musste ich insgeheim zugeben, dass er, dass Fidel vielleicht die ganze Zeit Recht gehabt hatte und ich und viele andere uns geirrt haben.“ Die Rede Fidels endete mit einer Bestandsaufnahme Mexikos: Es könne sein, sagt der Kubaner über die Zukunft Lateinamerikas, dass immer weniger Mexikaner wüssten, wer der Gründer ihres Landes sei, aber alle wissen, wer Mickey Mouse ist. „Einfacher kann man es nicht ausdrücken“, bewundert Jan Stage.

Wie sehr der Krieg einen jeden verändert, auch den, der nicht kämpft, beschreibt er in seinem Bericht aus dem Kosovo. Immerhin: Er, der die Serben gut kannte, der sogar „gewisse Grundzüge ihres Kampfes um Bewahrung der Reste eines serbischen Bosniens“ verstanden hatte, begleitete sie nicht ohne Mitgefühl, als sie aus der Krajina vertrieben wurden. Aber seine Gefühle ändern sich angesichts der Massengräber, der leeren Gesichter von Kosovo-Albanern, die ihre Familienangehörigen ausbuddeln, und der Erfahrung, dass serbische Soldaten seine makedonische Dolmetscherin mit Vergewaltigung bedrohen. Als Stage verfolgt, wie serbische Offiziersfamilien unter dem Schutz von britischen Soldaten aus Priština auswandern, notiert er: „Ich denke an die zahllosen kosovo-albanischen Frauen und ihre Schreckensberichte. Und ich muss einräumen, dass ich denke: Wenn diese Kolonnen überfallen würde, wenn die UÇK von den Hügeln hinunterkäme und sich auf diese serbischen Offiziersfrauen mit ihrem Modeschmuck, ihren Teewärmern und ihre Lacktaschen stürzte, würde ich keinen Finger krumm machen. ‚Auge um Auge‘ würde ich denken. Denn so sehr habe ich mich in all diesen Jahren im früheren Jugoslawien verändert. Ich verstehe, ja, ich begrüße diese Anatomie des Rachegedankens. Jeder einzelne Serbe ist hier im Kosovo beteiligt gewesen. Als Denunziant, Sympathisant, als Guide, als Soldat, als Paramilitär, als Polizeiangehöriger. Gebt ihnen ihre eigene Medizin zu schmecken. Dieselbe, die sie den Kosovo-Albanern zu trinken gaben. Sollen sie ihr Kainsmal bekommen: die Kollektivschuld.“

Stage wird auch diese Gefühle irgendwann wieder überwinden. Er ist, 1935 geboren, mittlerweile zu lange auf der Welt, um nicht zu wissen, dass es keine eindeutigen Erklärungen, keine klaren Antworten gibt. Krieg ist für ihn ein Bestandteil der Zivilisation, des Lebens. Aber warum macht der das, was er seit 40 Jahren tut, und hat dabei das Gefühl, ein Buchhalter des Völkermords zu sein – ein Kriegskorrespondent, der über die grünen Hügel des Kosovo geht und bei jeder Leiche einen Strich in sein Notizbuch macht? In der Afghanistan-Reportage ist er am Ende müde. Er schreibt, „ich wünschte, ich könnte sagen wie Ford Madox Ford: Bestimmt willst du mich fragen, warum ich schreibe. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Menschen, die Zeugen waren von der Plünderung einer Stadt, oder die gesehen haben, wie ein Volk zugrunde geht, festhalten wollen, was sie gesehen haben, damit es den Nachkommen zugute kommt – oder auch nur, um alles, was sie gesehen haben, wieder aus dem Schädel zu bekommen.“ Stage wünscht es so sagen zu können. Er sagt nicht, warum er es nicht kann – sondern nur: „Ich habe gerade jetzt nur keine Lust. Ich bin, ja was bin ich? Ich bin ins Hirn getroffen, wie man so sagt.“

Und ich bin nicht sicher, ob man nicht doch sagt, dass man ins Mark getroffen sei – denn das ist es auf jeden Fall, was Stages Reportagen tun: sie treffen einen ins Mark. RENÉE ZUCKER

Jan Stage: „Niemandsländer. Reportagen aus vier Erdteilen“, a. d. Dänischen v. Jörg Scherzer, 332 Seiten, Eichborn, Frankfurt a. M. 2002, 27,50 €

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