Trauriger Halbmond am Kottbusser Tor

Die türkischen Fans trugen die Niederlage ihrer Mannschaft im Halbfinale der Fußball-WM mit Fassung und hupten trotzdem auf dem Ku’damm. Die brasilianischen Fans im Sony Center freuen sich jetzt aufs Finale gegen Deutschland

„Es gibt ein Finale, von dem wir träumen.“ Überall in der Oranienstraße hängt das schwarzrotgoldene Plakat mit Stern und Halbmond. Doch der Traum vom deutsch-türkischen WM-Finale ist aus. Kaum war das Halbfinalspiel Türkei – Brasilien (0:1) abgepfiffen, herrschte in Kreuzberg Stille. Kein eisiges Schweigen, eher Ratlosigkeit. Zu wenig Chancen hatte die türkische Mannschaft herausgearbeitet, zu überlegen waren die Brasilianer.

Im Café Orya in der Oranienstraße hatten sich zuvor jene Türken getroffen, die für ihre Begeisterung für ihr Team weder Fahnen noch „Türkiye“-Rufe brauchen. Vor allem die Deutschtürken in der Mannschaft, Yildirai Bastürk und Ilhan Mansiz, wurden immer wieder angefeuert. Am Ende war man sich einig, dass an diesem Tag mehr einfach nicht drin war. „Wir müssen froh sein, nicht noch viel höher verloren zu haben“, sagt eine Frau. „Was soll’s.“

Ein Imbissbesitzer ein paar Häuser weiter hatte sich schon vorher mental abgesichert. Seinen verdutzten Gästen erklärte er kurzerhand: „Wenn ich hier einen Fernseher aufgestellt hätte, hätten meine Nerven das Spiel nicht überlebt.“ Wohl wahr.

Trotz der knappen Niederlage herrschte aber auch am Kottbusser Tor keine aggressive Stimmung. Einsam zog ein Motorrollerfahrer seine Kreise und schwenkte die Halbmondfahne, ein paar Jugendliche rannten, in rote Tücher gehüllt, die Straße auf und ab. Von der „mächtigen Trauerfeier“, von der noch vor dem Spiel ein etwa 30-jähriger Türke gesprochen hatte, keine Spur, nicht einmal von einem sich anbahnenden Autokorso. Wie um die gespenstische Szenerie abzurunden, verrichtete am Halleschen Tor ein türkischer BVG-Kontrolleur seinen Dienst und ließ sich auch nicht mit dem Hinweis auf protürkisches Daumendrücken erweichen.

Das Sony Center am Potsdamer Platz war wie immer bei den Spielen mit türkischer Beteiligung voll in der Hand Halbmondfahnen schwingender Jugendlicher. Voll? Nicht ganz, eine kleine Minderheit von Brasilienfans versuchte immer wieder, sich lautstark gegen die „Türkiye, Türkiye“- Rufe durchzusetzen. Aber erst als Ronaldo zu Beginn der zweiten Halbzeit überraschend auf das türkische Tor schoss und das 1:0 markierte, setzten sich die Sambatrommeln akustisch durch.

Obwohl die Fans beider Seiten dicht an dicht standen, blieb es vergleichsweise friedlich: Nur zehn Minuten vor Schluss kam es zu einer kleineren Rangelei zwischen Türkei- und Brasilienanhängern – Polizeibeamte und türkische Wachschützer kriegten die Situation aber schnell unter Kontrolle. Die Polizei hielt sich zwar auffallend zurück, schien aber auf die Situation gut vorbereitet zu sein. Schließlich war es hier nach der Vorrundenbegegnung Brasilien – Türkei zu handfesten Schlägereien gekommen.

Nach dem Spiel entspannte sich die Lage schnell. Die meisten Türken gingen traurig, aber nicht resigniert nach Hause, Einzelne reihten sich gar in den Pulk jubelnder Brasilianer ein. Ein Verhalten, das am Rande schon mal mit dem Wort „Verräter“ quittiert wurde. Auf der Potsdamer Straße dann doch noch eine kleine Prügelei, als türkische Fans aufeinander losgingen. „Die haben wohl gedacht, das wären Kurden“, sagte einer.

Die meisten Fans zogen aber, in einer Mischung als Stolz und Trotz rote Fahnen schwenkend, durch die Straßen. Rund 2.000 hupten mit ihren Autos erneut über den Ku’damm, einige gar mit deutschen Fahnen. Ein türkischer Securitymann brachte die Stimmung auf den Punkt: „Warum soll ich traurig sein? Dass wir so weit gekommen sind, reicht doch schon.“ ROT, WERA