Der Ozean, der Gott und die Fischer

Puri ist eine Pilgerstadt im indischen Bundesstaat Orissa. Bengali-Touristen wollen sich hier erholen, Fischer aus Südindien ihr Geld verdienen und Pilger der Gottheit Jagannath huldigen. Porträt einer sakralen Stadt

von ELISABETH SCHÖMBUCHER
Fotos BÄRBEL HÖGNER

Warum Puri? Ohne traumhaften Badestrand, ohne Tempelarchitektur, die bestaunt werden kann? Puri ist eine Pilgerstadt, in der tiefe Religiosität und schnöder Kommerz nebeneinander stehen. Puri ist die Stadt der Städte, es ist die Stadt Jagannaths, des Herrn der Welt. Das gesamte Leben dieser Stadt wird geprägt vom Tempel, in dem Vischnu in seiner Form als Jagannath verehrt wird. Die große Holzikone des schwarzen Gottes mit den riesigen runden schwarzweißen Augen, mit Armen, denen die Hände fehlen, und ohne Unterkörper, mutet archaisch an. Puri bedeutet „die Stadt“. Als Suffix findet man „-puri“ oder „-pur“ in vielen Ortsnamen.

Jagannath gehört zu den ganz wenigen hinduistischen Gottheiten, deren Anblick im Tempel allen Nichthindus verwehrt bleibt. Nicht einmal für den englischen König George V. wurde eine Ausnahme gemacht. Als westliche Hare-Krischna-Anhänger in den Achtzigerjahren zunächst unbemerkt in den nachts versiegelten Tempel gelangten, war dieser entweiht und musste tagelang von den Priestern von ritueller Unreinheit befreit werden.

Am Golf von Bengalen gelegen, kann Puri nur über eine einzige Straße oder mit dem Zug erreicht werden. Von Orissas Hauptstadt Bhubaneshwar kommend fährt man ca. 50 Kilometer durch intensivstes Grün bewässerter Reisfelder und sieht schon nach der Hälfte der Strecke die Spitze des Tempels mit seiner riesigen roten Fahne. Der Tempel, gleichermaßen religiöse wie wirtschaftliche Institution, dominiert das Leben in der Stadt. Mehrere tausend Priester kümmern sich um die Pilger und den Gott. An normalen Tagen kommen 10.000 Pilger nach Puri, zum großen Wagenfest im Juli sind es mehrere 100.000. Sie werden von speziellen Pilgerpriestern, die als „sakrale Reiseleiter“ fungieren, durch die Stadt zu den verschiedenen Heiligtümern geführt. Der Kampf um Pilger wird unter den Priestern mit im Ringen ausgebildeten Schleppern ausgetragen, die die Pilger am Bahnhof abfangen.

Währenddessen kümmern sich die Tempelpriester den ganzen Tag um Jagannath, der gebadet, gefüttert, an- und ausgekleidet, unterhalten und schlafen gelegt werden muss. Beim Wagenfest im Juli bekommen die Gottheit auch Außenstehende zu Gesicht. Dann verlässt Jagannath seinen Tempel und fährt mit großem Gefolge für zwei Wochen zu seiner Sommerresidenz.

Rund um den Tempel werden Opfergaben, Devotionalien, aber auch Orissa-Handicrafts, in Ikat-Technik gewebte Saris und Stoffe, verkauft. Überall trifft man in orangerote Tücher gehüllte Asketen mit ihren Bettelschalen. Seltener sieht man einen, der sich vor den Tempeltoren auf Dornen gebettet hat. In die Tempelökonomie eingebettet sind 37 Kasten, deren Mitglieder in Puri, aber auch in zahlreichen Dörfern rund um Puri leben. Täglich kommen Ochsenkarren aus dem nahe gelegenen Töpferdorf in die Stadt, die speziell gefertigte Tontöpfe für die Speisen anliefern, die in riesigen Mengen für Jagannath zubereitet werden. Nachdem der Gott von den Speisen gekostet hat, werden sie als Mahaprasad (große göttliche Gnade) an die Gläubigen verkauft. Die Tontöpfe sind Einweggeschirr. Sie werden durch menschliche Berührung verunreinigt und können im Tempel nicht wieder verwendet werden.

Der Strand von Puri ist vieles, am wenigsten jedoch Badestrand. Der Ozean als Zusammenfluss aller heiligen Flüsse gilt als Heiligtum schlechthin. Sein Wasser hat größte rituelle Reinigungskraft. An seinem Südwestende wird der Strand von Puri begrenzt durch den Verbrennungsplatz, das Swargadwar (Tor zum Himmel). Hier nehmen die Angehörigen, die den Verstorbenen zum Verbrennungsplatz getragen haben, ein rituelles Bad im Meer, um sich von der stärksten rituellen Verunreinigung zu befreien. Hierher kommen die Pilger, um sich die Haare rasieren zu lassen, zum Zeichen großer Frömmigkeit und Hingabe an Jagannath. Hier sieht man, meist früh morgens, die Rituale für längst verstorbene Familienmitglieder, die als Ahnen über das Wohlergehen ihrer Verwandten achten, sofern sie regelmäßig verehrt werden.

Hier sind auch die Mittelklassehotels der Bengali-Touristen aus Kalkutta und die zahllosen Souvernirläden mit einer endlosen Reihe farbenprächtiger Saris und Punjabi-Dresses, Spielwaren und Muschelnippes. Am anderen Ende des Strandes, nordöstlich gelegen, befindet sich die Chakratirtha Road. Hier hat einst Vischnu seinen Diskus (Chakra) geworfen, um seinen Verehrer, den weißen Elefanten, vor den Krokodilen zu retten, als dieser den Fluss überqueren musste. Heute beherbergt ein kleines Tempelchen Vischnus Chakra, in Zement gegossen, neben dem weißen Elefanten, dessen Bein von einem sehr grünen Krokodil schon blutig gebissen wurde.

Am Nachmittag kommen die Fischer. Mit ihren Teppas, einer Art Katamaran aus zusammengebundenen, grob behauenen Baumstämmen, kehren sie zum Strand zurück. Auch die Fischer sind Fremde im Königreich Jagannaths. Es sind so genannte Migrating Fishermen, die aus Andhra Pradesh in Südindien kommen. Am Strand beginnt nun ein hektisches Treiben. Selbstbewusste und zornige Händlerinnen streiten lautstark um den Fang. Die Fischer gelten in Puri als stolz, unabhängig, freiheitsliebend, leicht erregbar, aggressiv, streitsüchtig, gewalttätig.

Die Szenen am Strand mögen Teile dieser Charakerisierung bestätigen, sie haben jedoch eine konkrete Ursache. Die Bewohner Puris essen keine Meeresfische. Im Gegensatz zu Süßwasserfischen gelten sie ihnen als zu bitter, das Fleisch zu dunkel, zu salzig, insgesamt als ungesund. Meeresfische werden entweder von den Fischerfrauen getrocknet und zurück nach Andhra Pradesh transportiert oder aber in so genannten Ice-Factorys auf Eis gepackt und mit dem Nachtzug nach Kalkutta versandt. In beiden Fällen wird der Fang direkt nach der Rückkehr der Männer am Strand versteigert. Konkurrenz bekommen die Händlerinnen von Großhändlern aus Puri. Zum Streit kommt es deshalb, weil die Großhändler einen etwas höheren Preis bieten können als die Frauen, die der Meinung sind, sie hätten ein moralisches Vorrecht, den Fisch von ihren eigenen Männern und Verwandten zu einem niedrigeren Preis zu ersteigern. Wenn die Männer diesem Vorrecht nicht stattgeben, sehen sie sich wüsten Beschimpfungen ausgesetzt.

Der Strand ist für die Fischer nicht nur Zentrum ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten. Er ist auch sakraler Ort, an dem die Fischer ihre Gottheiten verehren. Ihre eigenen Gottheiten sind territorial gebunden, sie bleiben in Andhra Pradesh zurück, aber sie werden für die Zeit des Rituals nach Puri eingeladen. Jagannath als Herrscher über Puri muss um Erlaubnis gebeten werden, die fremden Gottheiten für kurze Zeit in sein Königreich zu lassen. Dann können sie, meist donnerstags am späteren Nachmittag, auch in Puri verehrt werden, entweder direkt am Strand, wo sie durch Sandbällchen symbolisiert werden, denen Tieropfer oder auch vegetarische Opfergaben dargebracht werden; oder an den zahlreichen Bambusstangen, die den Strand säumen und die ebenfalls einzelne Gottheiten darstellen; oder aber, indem sie in den Körper einer Fischerfrau gebeten werden, die dann als Medium agiert, durch das die Gottheit spricht.

Letzteres hat den Vorteil, dass man die Gottheiten bei Problemen direkt um Rat fragen und um Hilfe bitten kann. Denn Jagannath ist zwar der Herr der Welt, der als solcher auch von den Fischern verehrt wird, bei der Lösung irdischer Probleme erweisen sich jedoch die eigenen Gottheiten als fähiger, auch wenn sie dazu für kurze Zeit aus der Fremde in Jagannaths Königreich kommen müssen.

Die Autorin Elisabeth Schömbucher ist Ethnologin, hat lange in Puri gelebt und arbeitet als Dozentin an der Uni Würzburg.Bärbel Högner, freie Fotografin, arbeitet zu Themen der Visuellen Anthropologie. Die Bilderserie aus Puri entstand 2001 im Rahmen des Forschungsprojekts „Ethnografie Orissas“ am Institut für Historische Ethnologie der Universität Frankfurt.