„Favorit ist, wer mit dem Pokal weggeht“

Gespräch mit dem dreimaligen brasilianischen Weltmeister Pelé über das morgige WM-Finale gegen Deutschland, die Mission des Stürmers Ronaldo, den Hochmut der gestürzten Favoriten und ein Turnier der Schocks und Revolutionen

taz: Sie gelten als einer der größten Experten im Fußball – wie beurteilen Sie diese Weltmeisterschaft der Überraschungen?

Pelé: Es war ein sehr gutes Turnier auf hohem Niveau, und diese unerwarteten und teilweise phantastischen Resultate haben mir persönlich sehr gut gefallen.

Zumindest endet es nun mit dem Zusammentreffen der zwei erfolgreichsten Fußball-Länder der Geschichte.

Bei dieser Weltmeisterschaft erlebten wir jede Menge Premieren: das erste Mal in Asien, das erste Mal mit zwei Gastgebern, die erste WM im dritten Jahrtausend. Also war es auch allerhöchste Zeit, dass wir hier zum ersten Mal den wichtigsten Kräftevergleich erleben, auf den der Fußball lange gewartet hat. Und wenn es dazu kommt, dann bitte schön auch im Endspiel.

Statistisch gesehen handelt es sich um ein Duell von Giganten, aber haben Ronaldo und Co am Sonntag nicht eher ein Demonstrationsspiel vor sich als einen harten Kampf?

Gerade bei dieser WM haben zu viele Trainer und noch viel mehr Spieler den Fehler gemacht, dass sie ein Spiel schon mit dem Mund gewonnen hatten, bevor überhaupt der Ball gespielt worden war. Deutschland und Brasilien beginnen am Sonntagabend bei 0:0. Ich kann meinen Landsleuten nur eines sagen: Ignoriert das dumme Geschwätz, was das doch für ein schwacher deutscher Gegner sei. Ich kann wirklich aus Erfahrung behaupten: Ein WM-Endspiel ist NIEMALS leicht. Schreiben Sie niemals bitte in Großbuchstaben.

Trotzdem eine Prognose?

Vor vier Monaten hätte kein Mensch auf der Welt solch ein Finale getippt. Aber jetzt haben sich beide als die stärksten Mannschaften herauskristallisiert. Die beste Abwehr trifft auf den besten Angriff. Aber ich denke, Brasilien gewinnt. Ich fühle mich nur nicht wohl dabei, wenn alle behaupten, Brasilien sei der große Favorit. Der einzige Favorit ist der, der am Ende mit dem Pokal vom Platz geht.

Was könnte der Vorteil Brasiliens sein?

Jeder unserer Spieler besitzt die technischen Fähigkeiten, zu einer großen Bedrohung für die deutsche Abwehr zu werden. Doch es gibt zwei Schlüsselspieler. Und das werden Ronaldo und Cafú sein. Ronaldo, weil er eine Mission zu erfüllen hat. Er will nach den wirklich traurigen Dingen, die um ihn herum beim letzten WM-Finale passiert sind, und der Reihe von Verletzungen danach etwas gutmachen. Dies ist seine persönliche Revanche am Schicksal. Am schönsten wäre es, wenn ihm die Entscheidung gegen Kahn gelingen würde. Das wäre dann wie in einem großen Film-Duell. Und was Cafú betrifft: Er ist der beste rechte Verteidiger der WM und inspiriert diese Mannschaft sowohl mit seinem Spiel als auch als Kapitän.

Die Diskussionen um den Erfolg dieser WM werden sehr kontrovers geführt: Kritik am Niveau des Turniers kommt jedoch vor allem aus jenen Ländern, deren Nationalteams nun schon länger vor dem Fernseher sitzen. Warum loben Sie diese WM so hoch?

Der größte Erfolg dieser Weltmeisterschaft war es, dass hier bewiesen worden ist, wie effektiv sich der Fußball rund um die Welt in den letzten paar Jahren verbessert hat. Es gibt kaum noch Underdogs. Und deshalb werden wir die erste Weltmeisterschaft in Asien im Kopf behalten als das Turnier der Schocks und Revolutionen.

Ein paar der Großen schieben ihr Ausscheiden den drittklassigen Schiedsrichtern in die Schuhe.

Es hat einige ziemlich schlimme Fehlentscheidungen gegeben, aber Mannschaften mit Klasse sollten niemals glauben, sie seien irgendwann von einer Entscheidung eines Schieds- oder Linienrichters abhängig. Die Fußballriesen wie Argentinien, Italien und Portugal sind vor allem deshalb so früh heimgeflogen, weil sie den schlimmsten Fehler gemacht haben: Sie kamen schon selbstzufrieden und viel zu arrogant hier an. Und deshalb muss Brasilien gegen Deutschland auch so auf der Hut sein.

INTERVIEW: MARTIN HÄGELE