Stoiber kommt 50 Jahre zu spät

Die Vertreibung ist ein schönes Wahlkampfthema. Das findet jedenfalls der Kanzlerkandidat und blamiert sich mit historischen Irrtümern. Auch in der Union gibt’s nicht nur Zustimmung: Rita Süssmuth wirbt für „gemeinsames Erinnern“ in Europa

aus München OLIVER HINZ

Kanzlerkandidat Edmund Stoiber sieht keinen Grund, sich zu korrigieren. Auf dem Ostpreußentag am letzten Sonntag hatte er behauptet, dass „das Unrecht der Vertreibung als ungelöstes Problem noch im Raum“ steht. Also forderte Stoiber mit aller Schärfe, dass Polen umgehend seine Vertreibungsdekrete aufhebt. „Da gibt es nichts zurückzunehmen“, sagte jetzt einer seiner Sprecher der taz.

Dabei sieht alles nach einer Blamage aus, denn Stoiber kommt ein halbes Jahrhundert zu spät: Die so genannten Bierut-Dekrete, die die Vertreibung der Deutschen begründeten, sind längst aufgehoben. „Das hat Polen bereits 1950/51 rechtlich weitgehend erfüllt“, sagte der Direktor des Deutschen Polen-Instituts, Dieter Bingen, zur taz.

Das hätte Stoiber wissen können. Denn der Polenexperte Bingen dokumentierte die Warschauer Amnestiegesetze in einem Buch, das bereits vor fünf Jahren in München erschien. Das polnische Parlament Sejm hob im Juli 1950 Sanktionen und Beschränkungen gegen Staatsbürger auf, die sich im Zweiten Weltkrieges in deutsche Volkslisten eingetragen hatten. Ende 1950 erlosch dann das Ausweisungsdekret vom 13. September 1946. „Man muss dem bayerischen Herrn Ministerpräsidenten genau erklären, warum er sich geirrt hat“, betonte der Vizepräsident der Warschauer Universität und Historiker, Włodzimierz Borodziej, in der polnischen Zeitung Rzeczpospolita.

Indirekt kritisierte auch CDU-Abgeordnete Rita Süssmuth Stoibers Vorgehen. Die Vorsitzende des Kuratoriums der Deutsch-Polnischen Gesellschaft erklärte gegenüber der taz: „Wichtig finde ich, erst die gültige Rechtslage zu prüfen, bevor man die andere Seite auffordert, die Dekrete aufzuheben.“ Gleichzeitig nahm sie den Kanzlerkandidaten aber in Schutz: „Weder die deutsche Regierung noch die polnische wusste offenbar, dass die vielfältigen und komplizierten Vertreibungs- und Enteignungsdekrete größtenteils aufgehoben sind.“ Allerdings seien die polnischen Rechtsakte nicht mit den tschechischen Beneš-Dekreten vergleichbar, die quasi Verfassungsrang hätten.

Klartext sprach dagegen der Vorsitzende der Deutsch-polnischen Parlamentariergruppe und SPD-Abgeordnete Markus Meckel. „Stoiber hat gewissen Schaum vor dem Mund“, monierte er gegenüber der taz. Seine Fraktionskollegin und Vorsitzende der Deutsch-Polnischen Gesellschaft, Angelica Schwall-Düren, nannte es eine „objektive Tatsache, dass die polnischen Vertreibungsdekrete nicht mehr gültig sind“. Die Sozialdemokratin warf Stoiber vor, in Polen Misstrauen gegenüber Deutschland zu schüren. „Er lässt jegliches Fingerspitzengefühl vermissen.“ Polenexperte Bingen hält Stoibers Position für „politisch fatal“, sie führe in Polen nur zu „unnötigen Verhärtungen“. Die Position des Kanzlerkandidaten sei deshalb „nicht erfolgsorientiert“. Der Kommentar des polnischen Ministerpräsidenten Leszek Miller lautete denn auch: „Wir betrachten die damaligen Entscheidungen als endgültig, und die polnische Regierung wird diese Themen nicht noch einmal aufgreifen.“

Die Ostmitteleuropaexpertin der Deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik, Andrea Grawich, warnte Stoiber davor, die Vertreibung im Wahlkampf zu instrumentalisieren. Doch genau das droht sich nächsten Donnerstag im Bundestag zu wiederholen. Es geht um den Beschluss über ein Zentrum gegen Vertreibung. Stoiber fordert eine „nationale Erinnerungsstätte“ in Berlin. Doch das wäre nach Ansicht von Kritikern die schlimmste Lösung. „Dann gehen in Polen die Wellen hoch“, prophezeite Meckel. „Das müssen wir gemeinsam machen.“ SPD und Grüne befürworten ein europäisches Zentrum, das nicht notwendigerweise in Berlin zu Hause sein muss. Auch Breslau (Wrocław) wäre denkbar, wofür polnische Publizisten werben.

Anders als Stoiber, der nur von einem Dokumentationszentrum in Berlin spricht, will Süssmuth das Projekt dezentralisieren und „europäisch ausrichten“. Sie plädiert für Standorte in Berlin, Polen und Tschechien, aber auch in anderen betroffenen Ländern. „Es geht um gemeinsames Erinnern mit seinen je nationalen Besonderheiten, nicht nur um Vergangenheit, sondern um Zukunft“, erklärte Süssmuth.