Letzte Ausfahrt Pjöngjang

aus Pjöngjang JUTTA LIETSCH

Der Regierungsfunktionär versteht die Welt nicht mehr. Da betreten zwei Mädchen, kaum mehr als 18 Jahre alt – flott geschminkt, die Anstecknadel mit dem Porträt des Großen Führers Kim Il- Sung an der Bluse – ein Straßenrestaurant im Zentrum von Pjöngjang.

Sie bestellen Bier und ein Grillgericht, plaudern und lachen, zahlen die teure Rechnung, ohne mit der Wimper zu zucken, und ziehen fröhlich wieder ab. „Die haben sich wie Ausländerinnen benommen, so frei und ungezwungen,“ wundert sich der an das strenge Alltagsregiment gewohnte Funktionär: „So etwas habe ich noch nicht erlebt!“

Eine knappe Autostunde entfernt, nahe der westlichen Hafenstadt Nampo, sitzt ein alter Mann seit dem frühen Morgen bei einem Felsen und fischt. Jeden Tag wirft der 68-Jährige, der früher in der Verwaltung der Stadt gearbeitet hat, seine Netze aus. Manchmal ist der Fang groß genug, um sich von dem Erlös auf dem freien Markt Mais, Reis und Öl zu kaufen, berichtet er. Dann kann er sich wieder einmal satt essen. Als Rentner bekomme er keine Lebensmittel von der Regierung.

Staatliche Rationen erhält nur, wer Arbeit hat. Unter dem rigiden Plansystem, das der Große Führer Kim Il-Sung vor über fünfzig Jahren eingeführt hatte, kümmert sich offiziell der Staat um die Ernährung aller Bewohner. In Nampo sei das Versorgungssystem aber Mitte der Neunzigerjahre zusammengebrochen, erzählt der alte Mann. Freier Handel war bis vor kurzem verboten – und ist bis heute nur widerwillig geduldet.

Trotzdem können die Bürger heute legal ihre privat gefangenen Fische, Krabben und Seetang verkaufen. „Das Leben ist noch sehr hart, aber es ist nicht mehr ganz so schlimm wie vor drei Jahren“, sagt der Alte in Nampo. „Weil wir an der Küste wohnen und den Fisch haben, sind in unserer Stadt nicht so viele Menschen verhungert wie in anderen Teilen des Landes.“

Liberalisierung aus Not

So ist das im „Paradies Nordkorea“, wie eine Fremdenführerin im Revolutionsministerium der Hauptstadt ihre Heimat nennt: Mit Hilfe des kleinen Privathandels, einer wachsenden Schattenwirtschaft, vor allem aber Millionen Tonnen internationaler Lebensmittelspenden, die seit Mitte der Neunzigerjahre ins Land kommen, scheint mittlerweile immerhin die schlimmste Hungersnot überwunden zu sein, die zwischen 1995 und 1998 hunderttausende – möglicherweise sogar Millionen Menschen – das Leben kostete. Notgedrungen mussten Diktator Kim Jung-Il und seine Militärs die Zügel in dem lang rigide abgeschotteten Land, das US-Präsident Bush zu seiner „Achse des Bösen“ zählt, ein bisschen lockern: An Straßenrändern verkaufen Frauen Beeren, Nüsse und Wildkräuter, die sie auf dem Fahrrad-Gepäckträger im Korb oder auf dem Kopf transportieren. Immer wieder sieht man Männer mit Säcken und Kanistern an Ortseingängen sitzen, die offenbar auf Kunden warten. Wie ungewohnt der kleine Handel noch ist, zeigt sich, als Ausländer die Szene fotografieren wollen: Die Verkäufer springen auf, raffen ihre Sachen zusammen und flüchten.

In Pjöngjang und anderen Orten drängen sich Kinder in der Hitze des Sommers um bunte, stoffbespannte Buden, die Eis und Getränke verkaufen. Sogar private Restaurants, oftmals von Auslandskoreanern finanziert, scheinen keine Seltenheit mehr zu sein. Wer von Verwandten im Ausland Geld erhält, darf in Devisenläden importierte Fernseher, Kühlschränke und Möbel kaufen.

Die Iljuschins der „Air Koryo“, die zweimal die Woche aus Peking in Pjöngjang eintreffen, sind voll geladen mit Computern, Scannern, Druckern und Haushaltsgeräten. An der Zollkontrolle herrscht Gewühl. Mittendrin scheinen die Zöllner nicht abgeneigt, gegen einen Obolus die Vorschriften großzügig zu interpretieren.

Dabei hat sich das Land offensichtlich längst nicht von der Krise erholt. In den staatlichen Lebensmittelläden ist das Angebot Mitleid erregend dürftig. Ein angekündigter Fabrikbesuch entpuppt sich als Besichtigung der Industriehalle im Revolutionsmuseum: „Die Situation ist schlecht, wir können jetzt keine Fabriken zeigen“, lautet die geflüsterte Entschuldigung.

Krampfhaft halten der „Liebe Führer“ und seine Genossen an der Behauptung Fest, Schuld an der Mangelwirtschaft hätten allein die Naturkatastrophen der Neunzigerjahre, nicht etwa das starre Plan- und Verteilungssystem und die fehlende „brüderliche Hilfe“ der früheren sozialistischen Ostblockstaaten.

Der Lockruf des Dollars

Der öffentliche Transport liegt völlig am Boden: Außerhalb der Hauptstadt sind die Überlandstraßen wie ausgestorben. Frauen, Männer und Kinder wandern mit Rucksäcken von Ort zu Ort. Wer eine Mitfahrgelegenheit ergattert hat, sitzt nicht selten dicht gedrängt auf der Ladefläche, direkt unter einer schwarzen Rauchfahne, die aus einem Feuerkessel hinter dem Fahrerhaus dringt. Statt Benzin treiben Holz oder Kohle die maroden Lastwagen an. Auf einer Straße östlich der Hauptstadt springen Soldaten mit erhobenen Gewehren vor einen Bus, um ihre Mitfahrt zu erzwingen. Erst als sie Ausländer erblicken, weichen sie.

Es ist extrem schwierig, ein verlässliches Bild über die wirtschaftliche Situation Nordkoreas zu gewinnen: Denn große Teile des Landes sind für Ausländer gesperrt. Nur einer winzigen Elite von Nordkoreanern ist es gestattet, Kontakte nach außen zu haben. Private Beziehungen sind tabu.

Dennoch lässt sich sagen: Es bewegt sich was in Nordkorea. Nicht etwa, weil das Regime politisch liberaler geworden wäre, sondern aus purer wirtschaftlicher Not. Offensichtlicher als im Rest des Landes ist dies in der Hauptstadt.

Die Regierung versucht Touristen und Dollars anzulocken. Die um die Türme des Ausländern und nordkoreanischen VIPs vorbehalten „Koryo“-Hotels führende Straße ist von bunten Lichterketten erhellt. Neonzeichen werben für Restaurants mit traditioneller koreanischer und westlicher Küche. Souvenirbuden bieten Tuschemalereien, Briefmarken, Antiquitäten, Strohhüte und allerlei Kitsch feil. Andere offerieren koreanisches Bier, Schnäpse und importiertes Obst. Ein Imbissstand verkauft gar Hamburger, Hotdogs, Pizza und Eiskrem. Die Preise sind in US-Dollar angegeben, ein Hamburger kostet zwei Dollar. Wer Dollar, Yen oder chinesische Yuan hat, ist willkommen. Niemand scheint zu fragen, woher die Devisen stammen.

Bis Mitternacht dringen durch die nahen Hochhausschluchten sacharingetränkte Liebeslieder einer Damenband. Die Truppe tritt in einer Straßenkneipe auf, die mit Stoffbahnen von der Straße abgetrennt ist. Auf weißen Plastiktischen stehen Schnaps und Bier, Erdnüsse und getrockneter Fisch, es zischt das Fett von Rindfleisch und Tintenfisch, Hühnchen und Schweinefleisch auf der glühenden Holzkohle des Tischgrills, der zum koreanischen Nationalgericht „Bulgogi“ gehört. Die Gäste: eine Hand voll europäischer Touristen, chinesische Reisegruppen und Koreaner aus der japanischen Diaspora und Vertreter der politischen Elite Nordkoreas. Manche Damen tragen Givenchy-Täschchen und betupfen die Lippen mit einem Yves-Saint-Laurent-Tüchlein.

Neu ist auch die Schlange von Taxis, die vor dem Koryo-Hotel auf Gäste warten. In den Straßen von Pjöngjang, wo noch vor wenigen Monaten nur selten ein Auto zu sehen war, kommt es inzwischen hier und da sogar zu einem kleinen Stau.

Ein Funktionär berichtet von einem noch sensationelleren Wandel: In Pjöngjang sollen schon einheimische mobile Telefone funktionieren. Der Preis ist allerdings gepfeffert: 500 US-Dollar soll allein die Anmeldung kosten, dafür müsste ein Regierungsangestellter mehrere Jahre lang arbeiten. Später sollen auch andere Orten freigeschaltet werden, ins Ausland telefonieren kann man damit allerdings nicht. Besucher müssen bei der Ankunft am Flughafen nach wie vor ihre Handys und Satellitentelefone abgeben.

Um den erhofften Ansturm von Touristen und Geschäftsleuten zu bewältigen, will die staatliche Luftfahrtgesellschaft „Air Koryo“, deren Flotte aus betagten russischen Iljuschins besteht, ab nächstes Jahr drei Airbusse einsetzen. Nordkoreanische Piloten trainieren zudem auch schon auf Boeing-Maschinen, berichten Diplomaten.

Lasst ein paar Blumen blühen

Handys und Hamburger sind nicht die einzigen Veränderungen, die in Pjöngjang zu beobachten sind: Derzeit scheinen Kräfte in der Regierung an Einfluss zu gewinnen, die sich für eine langsame kulturelle Öffnung einsetzen. Zarte Kontakte erblühten in den letzten Wochen zum Beispiel zwischen den Botanischen Gärten Berlins und Pjöngjangs. Mit einem Stipendium des Deutschen Akademischen Auslandsdienstes (DAAD) besuchten im Mai drei Nordkoreaner Berlin, bei einem Gegenbesuch in Pjöngjang im Juni verabredete man unter anderem, sich gemeinsam für den Schutz bedrohter Pflanzenarten in Nordkorea einzusetzen.

Seit einigen Wochen arbeitet eine deutsche DAAD-Lektorin an der Kim-Il-Sung-Universität. Insgesamt will der DAAD in diesem Jahr 22 nordkoreanische Stipendiaten nach Deutschland holen. Junge Philharmoniker aus Berlin spielten im Frühjahr mit nordkoreanischen Musikern in Pjöngjang. Ein Physiker des Europäischen Kernforschungszentrums CERN hielt im Juni mehrere Vorträge vor nordkoreanischen Wissenschaftlern über Atomenergie.

Das Goethe-Institut plant für den September ein „Filmfestival“ in Pjöngjang, bei dem es zehn deutsche Filme zeigen will, die nach der Wiedervereinigung entstanden sind. Im gleichen Monat will die bayerische Landesregierung eine „Infrastrukturmesse“ in Pjöngjang veranstalten. Die Deutsche Botschafterin in Pjöngjang, Doris Hertrampf, unterstützt diese Aktivitäten: „Wir müssen alles dafür tun, um Nordkorea aus der Isolation zu holen und um den Menschen zu helfen.“

Allerdings: Das Büro des Ostasiatischen Vereins (OAV), das den Handel zwischen den beiden Ländern fördern sollte, hat jüngst wieder geschlossen. Für Geschäfte scheint es noch zu früh. Und auch weiterhin kann kein gewöhnlicher Nordkoreaner, kein Wissenschaftler und kein Geschäftsmann – zum Beispiel per Internet – direkte Beziehungen zu Kollegen im Ausland unterhalten.

Niemand macht sich deshalb Illusionen, dass die Kontakte mit diesem seltsamen Reich, in dem der 1994 gestorbene Kim Il-Sung als „Präsident auf Ewigkeit“ aus dem Jenseits weiterhin regiert, leicht sein werden. Bislang hoffen sein Sohn, der Liebe Führer Kim Jong-Il, und die mächtigen Generäle offenbar, ihr Land – wenn nötig – auch in Zukunft wieder hermetisch nach außen abschließen zu können. Doch die Risse in der Fassade ihres Reiches werden größer – und lassen immer mehr Ein- und Ausblicke zu.