Der gute Mensch Ronaldo

Von Coroa Vermelha bis zur Gay Parade an der Copacabana feiert ganz Brasilien den „Penta“, die fünfte gewonnene Fußballweltmeisterschaft. An Trittbrettfahrern herrscht kein Mangel

aus Porto Alegre GERHARD DILGER

„Was ist schlimmer: die Verlassenheitsängste, der Schrecken, die Ungewissheit und das Gefühl einer bevorstehenden Katastrophe bei einem Erdbeben – oder bei einem WM-Finale mit Brasilien?“, fragt Luis Fernando Verissimo, der beliebteste Kolumnist der Nation. Er habe beides mehrmals erlebt, und für ihn sei klar: „Mir ist ein Erdbeben lieber.“

Die Straßen waren leer gefegt, sämtliche Gottesdienste verschoben. Nur wenige der 175 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer wollten am Sonntagvormittag auf den kollektiven Nervenkitzel verzichten, den ihnen die Kicker in Yokohama bescherten. Zu den Helden des Tages wurden der „heilige“ Marcos, der Neuvilles Freistoß an den Pfosten lenkte, und Ronaldo, „Das Phänomen“.

Zum Schlusspfiff gab es Freudentränen und Böller, auch in jenem Armenviertel in São Paulo, aus dem Kapitän Cafú stammt. „100% Jardim Irene“ hatte der Außenverteidiger auf sein Trikot schreiben lassen, bevor er den Pokal in die Höhe streckte – eine Hommage an seine früheren Nachbarn, die heute mehr denn je unter der Gewalt von Drogengangs und Polizei zu leiden haben. Cafú will nun Sportanlagen für die Jugendlichen von Jardim Irene finanzieren.

Ab halb elf Uhr feierte ganz Brasilien den „Penta“, den fünften WM-Titel – zu Olodums Afrotrommeln wie in Salvador, zu Gaúcho-Rockklängen wie auf Porto Alegres verregneter Rua Goethe oder mit indianischen Gesängen wie in Coroa Vermelha, wo vor 502 Jahren die ersten portugiesischen Seefahrer ihre Kreuze in den Boden rammten. Noch kurz vor dem Finale hatten dort die Pataxó-Indianer ihre Götter und Ahnen um spirituellen Beistand für die Seleção angerufen. An der Copacabana gingen die Feiern nahtlos in die Gay Parade über. Selbst hier überwogen die Ronaldo-Fans, „aber nicht wegen der Tore“, so der Tänzer Rubens Rocha, „sondern weil man sieht, dass er ein guter Mensch ist, der die Minderheiten verteidigt“.

Politische Trittbrettfahrer mühten sich redlich: José Serra, der Regierungskandidat für die Präsidentenwahl im Oktober, verglich seinen Rivalen Lula mit den Deutschen und ließ gelbe Trikots mit der symbolträchtigen Aufschrift SeRRRa verteilen. Der scheidende Präsident Fernando Henrique Cardoso erhofft sich vom „Penta“ einen Hoffnungsschub, Beruhigung der Finanzmärkte und Rückenwind für Serra. Kühl reagierte Rivaldo auf die Glückwunsche Cardosos: Auf „ein gutes Wort des Präsidenten“ habe er gewartet, als die Qualifikation auf der Kippe stand – aber damals „gab es nur noch mehr Druck“.

Auch Ricardo Teixeira, der von Korruptionsvorwürfen gebeutelte Vorsitzende des Brasilianischen Fußballverbandes (CBF), hat wieder Oberwasser. Der Erfolg der Seleção sei „die Antwort des Vorsitzenden“ an alle Zweifler, sagte sein Onkel, der CBF-Generalsekretär Marco Antonio Teixeira. Ricardo, enger Verbündeter von Fifa-Chef Joseph Blatter und Ex-Schwiegersohn von dessen Vorgänger João Havelange, hatte zuletzt gar damit gedroht, den heutigen Triumphzug der Weltmeister an der Hauptstadt Brasília vorbeizuschleusen. Teixeira hält sich zugute, Luiz Felipe Scolari zum Nationaltrainer berufen zu haben. Die Hartnäckigkeit von „Feldwebel“ Scolari gilt nicht nur in seiner südbrasilianischen Heimat Rio Grande do Sul als Schlüssel für den „Penta“. Selbst Torjäger Romário, den Scolari trotz einer heftigen Kampagne der Fans nicht mitgenommen hatte, schloss sich den Lobeshymnen auf den Coach an und sagte: „Hauptsache, der Titel tut dem brasilianischen Volk gut.“

Damit traf Romário wieder einmal ins Schwarze. Die Grimassen Scolaris auf der Trainerbank, die Tore, die „vier Rs“ und schließlich der „Fall der Berliner Mauer Kahn“ ließen Millionen die Sorgen des Alltags vergessen. Die schönste Titelseite gelang dem Jornal do Brasil aus Rio: Ronaldo dreht nach seinem ersten Treffer ab, hinter ihm will Oliver Kahn im Erdboden versinken, dazu die Überschrift: „Die Welt liegt Brasilien zu Füßen“. Das sahen die Erzrivalen aus Argentinien anders: Der „Penta“ sei ein „Sieg des Mercosur“, teilte Präsident Eduardo Duhalde mit.