Blut geben und Tränen zeigen

„Dokumentarfilme und Blutkreisläufe“: Heute startet eine kleine Reihe im B-Movie,die der Frage nachgeht, wie weit Filmende im Umgang mit ihren ProtagonistInnen gehen

von BARBARA SCHULZ

„Es trifft immer Astrid und mich!“, berlinert ein kleiner Junge mit großer Brille und schaut auf seinen Teller, während Mutter und Schwester sich lautstark darauf einigen, dass Prügel schon in Ordnung sind, ab und zu. Harte Kost ist das, was die Filmemacherin Helga Reidemeister in ihrem 1979 entstandenen Porträt Von wegen Schicksal zeigt, einer Doku über eine Arbeiterfamilie im Märkischen Viertel. Alles, was man normalerweise nicht zu sehen bekommt, ist hier vorhanden: der Hass, die Neurosen, die Verstörung, das Geschrei und das Weinen.

Die Veranstalter der Filmreihe „Dokumentarfilm und Blutkreisläufe“, Markus Fiedler und Patrick Knorr, hatten im Rahmen ihres Studiums an der HfbK ein Praktikum absolviert, das sich mit „Alten Menschen und Depressionen“ befasste. Sie sprachen mit BewohnerInnen von Altersheimen und waren „völlig fertig“, als eine alte Dame unvermittelt in Tränen ausbrach. Sie fragten sich, wie man mit so einer Situation umgehen soll – und wie andere FilmemacherInnen damit umgehen. In ihrer Diplomarbeit, die den Ausgangspunkt zu dieser Reihe bildet, interviewten sie FilmemacherInnen dazu, wie weit sie denn vor der Kamera gehen würden.

Die Auffassungen waren erwartungsgemäß unterschiedlich. Helga Reidemeister etwa hat sich bewusst dazu entschieden, die Kamera nicht auszumachen, wenn Tränen fließen, um die gesamte Bandbreite der Emotionen zu zeigen. Ihr Film Mit starrem Blick aufs Geld scheint dies auch zu belegen, eine Doku über die eigene, als Fotomodell arbeitende Schwester.

Laut Reidemeister hat dieser Film sie und ihre Schwester einander wieder näher gebracht, was Stanislaw Mucha (Absolut Warhola) gar nicht verstehen kann: „Ich glaube nicht, dass Film so eine Kraft hat. Ich denke, unter Umständen kann eine Flasche Wodka mehr erleichtern als so eine Kamera.“ Seine Polnische Passion, eine filmische Annäherung an die Geschichte einer kleinen Sekte, die zwischen den Weltkriegen in einem ostpolnischen Dorf entstand, und Mit ,Bubi‘ heim ins Reich, seiner Auseinandersetzung mit dem Altnazi „Bubi“ Ludolf von Alvensleben, sind Dokumentarfilme, bei denen die ProtagonistInnen „Blut geben“, wie Mucha es nennt – wobei er damit keine Tränen meint: „Ich schneide das sofort raus, ohne Umschweife; mir geht es nicht gut damit.“

Marily Stroux, Fotografin und Filmemacherin, die zusammen mit Claudia Leitsch in Interessiert mich doch nicht, ob jemand schwarz, weiß, gelb oder kariert ist. Aber ... das Zusammenleben auf St. Pauli porträtiert, sieht das anders: „Ich habe so eine ziemlich genaue moralische Vorstellung gegenüber den anderen, weil ich finde, mit Fotos und Film nimmst du ununterbrochen was von den anderen. Es ist ganz wichtig, dass Respekt da ist und Vertrauen aufgebaut wird.“ Ganz ähnlich formuliert das Juliette Cazanave, deren Nicole et Jean eine Hommage an ihre inzwischen verstorbenen Eltern ist. Sie geht aber noch einen Schritt weiter und bezeichnet den Moment, in dem GesprächspartnerInnen vor die Kamera treten, als einen „Moment der Hingabe“.

Ein genaueres Bild vom Themenfeld kann man sich selbst machen, wenn die Filmauswahl abgerundet wird mit im Anschluss gezeigten 20-minütigen Auszügen aus den Gesprächen mit den jeweiligen RegisseurInnen. Und wie sich das gehört, wird am vorletzten Abend kräftig gefeiert, auf der „Blutkreislauf-Party“. Gebt Blut!

Von wegen Schicksal: heute; Nicole et Jean: 6.7.; Polnische Passion: 7.7.; Interessiert mich doch nicht...: 11.7.; Mit Bubi heim ins Reich: 13.7., anschließend Party; Mit starrem Blick aufs Geld: 14.7., alle 20.30 Uhr, B-Movie