Wenn der Tod plötzlich nahe ist

Kurz vor einer Schulreise nach Berlin starb eine 15-jährige Israelin durch eine Bombe. Ihre Mitschüler fuhren dennoch

Was machen israelische Jugendliche von 15, 16 Jahren, wenn sie zum Schüleraustausch in Berlin sind? Natürlich, sie gehen zum Ku’damm zum Shoppen, sie besuchen das frühere KZ Sachsenhausen, das Jüdische Museum oder – wie gestern – die prächtige Israelische Botschaft in Halensee. Was sie aber vor allem machen, ist: Party. Und zwar jeden Abend, wie Moritz, ein Schüler des Evangelischen Gymnasiums zum Grauen Kloster, der Partnerschule in Wilmersdorf, seufzt. Vor lauter Feierei bleibe kaum Zeit zum Essen, sagt Kalinka. „Sie wollen nicht eine Sekunde verpassen“, erklärt Jenny: Weil sie in Israel kaum noch tun können, was in diesem Alter fast Pflicht ist: tanzen, trinken, knutschen. Die jungen Israelis bleiben zu Hause. Weil Ausgehen lebensgefährlich ist.

Das wusste auch Shani Avi-Zedek. Die 15-Jährige wollte ebenso wie ihre 17 anderen Mitschüler der Boyar-Schule in Jerusalem mitkommen nach Berlin, eingeladen von der Schule zum Grauen Kloster und ihren deutschen Gasteltern. Sie wollte hier ihren Berliner Mitschülern erzählen, was das Leben in Israel angesichts fast täglicher Selbstmordattentate ausmacht, wie Gil im Hof der Botschaft erzählt. Diese Chance des Austausches sei ihr wichtiger gewesen als eine mögliche Reise nach Auschwitz, berichtet ihre Klassenkameradin Tania. Deshalb habe sich Shani für die Reise in die deutsche Hauptstadt entschlossen. Sie konnte mitfahren, da sie zu den Besten ihrer Klasse gehörte. Shani ist nie angekommen.

Fünf Tage vor dem Abflug nach Deutschland nahm Shani den Egged Bus Nummer 32 a, der vom Vorort Gilo ins Zentrum von Jerusalem fährt. Sie wollte in die Boyar-Schule, wo an diesem Tag für ihre Klasse Schwimmunterricht angesagt war. Um 7.50 Uhr stieg ein Mann an der Haltestelle von Beit Safata zu, einem arabischen Viertel gegenüber von Gilo. Kurz danach zündete er eine Bombe. Sie lag in seiner Tasche, in der auch Kugellager steckten. Die Detonation zerstörte den vorderen Teil des Busses, verletzte 74 Passagiere, tötete 19 Menschen – darunter Shani.

In der Schule warteten die Schülerinnen und Schüler mit ihren Lehrern auf die Letzten, die noch zum Schwimmunterricht kommen sollten, erinnert sich Tania. Erste Meldungen kamen, dass es einen Anschlag gegeben habe. Die Eltern der Fehlenden, die Krankenhäuser der Gegend wurden angerufen, ohne Weiteres zu erfahren. Nach drei Stunden durften die Jugendlichen nach Hause. „Wir wussten, was passiert war, aber wir wollten es nicht glauben“, berichtet Nadzin. Shani sei nur noch mittels ihrer Schwimmkleidung identifizierbar gewesen. Der Pathologe, der die Todesnachricht übermittelte, habe ihren Eltern abgeraten, sie noch einmal zu sehen.

Die Reise nach Berlin wurde um zwei Tage verschoben. Erst nach der Beerdigung Shanis und der religiösen Trauerzeit von sieben Tagen wollte man nach Deutschland reisen. Sie diskutierten darüber, ob sie fahren sollten, entschlossen sich, es zu tun, berichtet Gil. Man wolle sich nicht durch den Terror besiegen lassen. Shani hätte es gewollt, dass man von ihr und der Situation in Israel berichtet, meint Nidzan. Die Reise war kein wirklicher Spaß, sagt Uri. Es sei wie eine Gedenkreise gewesen, sagt jemand: „Wir haben getan, was sie hätte tun wollen.“

Am Freitag vergangener Woche organisierten die deutschen und israelischen Jugendliche im Gymnasium eine Gedenkstunde für Shani. Ihre Freundinnen hätten Texte über sie vorgelesen, sehr gefasst, erzählt Kalinka. Der Tod sei plötzlich so nahe gewesen. Sie habe weinen müssen, sagt die blonde Jenny – in Englisch, damit auch die zuhörenden Israelis sie verstehen.

Die Selbstmordattentate haben das Leben in Israel komplett verändert: Man informiere sich vorher genau, wohin man gehe, wenn man das Haus für eine Party verlasse, erzählt Uri: Wie voll ist der Ort? Ist es ein geschlossener Raum? Steht ein Sicherheitsmann davor? Sind vor allem Freunde da? Im Café koste alles mehr, um die Wächter vor der Tür bezahlen zu können. Man komme nur noch selten aus dem Haus, kaum noch aus der Schule: „Das macht dich verrückt“, sagt Nidzan. In Deutschland dagegen fühle sie sich frei, sicherer. Keine ängstlichen Blicke mehr auf den Typen im Bus, der so hässlich ist, dass er sich vielleicht umbringen will, wie David einwirft. Die jungen, uralten Israelis lachen.

PHILIPP GESSLER

Heute Diskussion von amnesty international zur Arbeit israelischer und palästinensischer Menschenrechtler: 19 Uhr, PALISADE.DE, Palisadenstraße 48