Der Himmel über Salamanca

Alte und neue Rituale in der Kulturhauptstadt 2002: Adelspaläste und Bürgerhäuser, Tapas-Bars und Clubs. Die alte Universitätsstadt Salamanca setzt nicht auf Mega-Events, sondern auf ein unkonventionelles Veranstaltungsprogramm

Das Portal der Universität erzählt Bidergeschichten aus Sandstein

von TILL BARTELS

Raquel fällt auf die Knie und betet. Vor ihr leuchtet der mit Gold überladene Altar zu Ehren der Señora de la Soledad, der Jungfrau der Einsamkeit. Darüber erhebt sich das riesige Kirchenschiff der Kathedrale von Salamanca, gekrönt von einer 40 Meter hohen Kuppel.

Nach kurzer Andacht verlässt die 23-jährige Studentin das kalte Gotteshaus. Draußen blendet das weiße Licht der kastilischen Hochebene, herrschen sommerliche Temperaturen. Sie steigt die Treppen zur gegenüber liegenden „Facultad de Filología“ hinauf. Morgen wird sie eine Klausur über die Poetik von García Lorca schreiben. Auf den Steinstufen sitzen Kommilitonen mit Schnellheftern, Cola-Dosen und Bücherstapeln. Fieberhaft entziffern sie die Displays ihrer Mobiltelefone und tippen neue Kurznachrichten ein.

Alte und neue Rituale in der europäischen Kulturhauptstadt des Jahres 2002: High Tech und antiquierte Bräuche existieren scheinbar widerspruchslos nebeneinander. Nachts knutschen Paare an den Klostermauern des Convento de las Dueñas, in dem tagsüber weiß gekleidete Nonnen hinter Gittern kalorienreiches Naschwerk an Touristen verkaufen. „Ich liebe die Atmosphäre hier“, bekennt Raquel, die aus Kantabrien zum Studium nach Salamanca zog. „Die Stadt ist jugendlich und uralt zugleich. Ich wollte an die Uni, wo schon Kolumbus studierte. Außerdem hat hier jeder Student im Nebenfach automatisch Kunstgeschichte, ob er es will oder nicht.“

Die 160.000 Einwohner zählende Stadt zwei Autostunden westlich von Madrid gilt wegen ihres Reichtums an historischer Bausubstanz als Nationaldenkmal und wurde 1988 von der Unesco in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen. Über 1,5 Millionen Besucher kommen jedes Jahr nach Salamanca. An der Universität sind 30.000 Studenten eingeschrieben, darunter viele aus dem Ausland. Allein zehn Prozent kommen aus Südamerika. An unzähligen Sprachschulen wird Spanisch für Ausländer unterrichtet. Hier im Südwesten von Kastilien-León, heißt es, werde das reinste Spanisch gesprochen.

Alle Welt trifft sich abends auf der Plaza Mayor, einem autofreien, von dreistöckigen Häusern umschlossenen Platz. Auf dem trapezförmigen Areal mit Rathaus, Arkaden und Cafés hat der Alltag seine Bühne. Dieser Mittelpunkt der Stadt kennt keine Unterschiede, keine Abgrenzung von Generationen, keine Trennung zwischen Fremden und Alteingesessenen. Für den niederländischen Schriftsteller Cees Nooteboom ist die Plaza Mayor „wie ein steinernes Wohnzimmer“, der Inbegriff des intakten öffentlichen Raums, urban und dennoch überschaubar. Der kürzlich verstorbene spanische Literaturnobelpreisträger Camilo José Cela nennt Salamanca gar „die Stadt der Städte.“

Die Fundamente der alten Bauwerke sind aus grauem Granit, die Gemäuer meist aus ockerfarbenem Sandstein, der in der Nachmittagssonne golden glänzt. Diese Fassaden gelten als das Markenzeichen Salamancas. Sie wirken wie frisch renoviert, sind aber mehrere Jahrhunderte alt. Das Baumaterial wurde einst in Steinbrüchen zehn Kilometer flussabwärts gewonnen. Die noch feuchten Quader ließen sich von Steinmetzen filigran bearbeiten, der verbaute Stein trocknete später felsenfest aus.

Schönstes Beispiel dieser an Ornamenten reichen Architektur ist die Fassade der berühmten Universität. Das Portal erzählt Bildergeschichten aus plastischem Sandstein, als wären sie von einem Goldschmied in Metall getrieben: fantastische Tierschädel, Masken, Früchte, florale Motive und die Insignien der katholischen Könige.

1218 wurde die Hochschule von Alfonso IX., dem König Leóns, gegründet. Sie gehört mit den Universitäten von Bologna, Oxford, Prag und Paris zu den ältesten in Europa. Damals lautete die Devise: Gut ausgebildete Beamte für die königliche Verwaltung, Theologen für den Kirchenapparat. 80 Prozent der spanischen Bischöfe kommen aus der Universidad Pontifícia de Salamanca. Ihre Blütezeit erlebten die Lehranstalten im 16. Jahrhundert. Cervantes drückte hier die Schulbank, der Dichter und Philosoph Fray Luis de León lehrte hier und wurde, weil er das Hohelied Salomos ins Spanische übersetzte, eingekerkert. Die in Salamanca tonangebenden Dominikaner unterstützten nicht nur die Expeditionen von Christoph Kolumbus, sondern auch die Methoden der Inquisition.

Im Innenhof der alten Universität ragt ein aus Kalifornien importierter Mammutbaum in den Himmel, umringt von den Hörsälen, der Aula Magna und einer Kapelle, in der sich am Wochenende ehemalige Studenten trauen lassen. Ein Treppe höher stehen im gotischen Bibliothekssaal über 50.000 Bücher, Manuskripte und wertvolle Inkunabeln aus der Zeit vor 1800. Die erste Frau durfte sich 1912 an der Uni immatrikulieren. Der nach Reformen strebende Philosoph Miguel de Unamuno war damals Rektor, bis er unter der Diktatur Primo de Riveras 1924 auf die Kanaren verbannt wurde. Erst kurz vor Beginn des Spanischen Bürgerkriegs durfte er wieder lehren. „Venceréis, pero no convenceréis“ – ihr werdet siegen, aber nicht überzeugen – protestierte er noch kurz vor seinem Tod gegen Franco vom Katheder.

Die Organisatoren der Kulturhauptstadt knüpfen an die Traditionen der „Stadt der Weisheit“ an. Das Konsortium Salamanca 2002 setzt nicht auf Mega-Events mit großen Stars, sondern auf interdisziplinäre Ausstellungs- und Veranstaltungszyklen. Das Programm widmet sich eher interessanten Nischen als dem Mainstream. 60 Millionen Euro sind in die kulturelle Infrastruktur geflossen: Ein Dominikanerkolleg wurde zum Ausstellungssaal, ein ehemaliges Provinzialgefängnis zum Zentrum für zeitgenössische Kunst. „Auch nach dem Jubeljahr 2002 werden wir von den Investitionen profitieren“, so Raquel. Das Teatro Liceo, das Opernhaus, wurde vollständig renoviert, und im Juni wird das Zentrum für darstellende Künste mit Gastspielen des Nederlands Dans Theater und der britischen Compagnie DV8 seinen Betrieb aufnehmen.

Musikalisch liegt der Schwerpunkt auf Werken aus der Barockzeit. Das ganze Jahr über werden also Barockopern aus halb Europa aufgeführt. Breiter angelegt wirkt das Repertoire von einem dutzend Ausstellungen. Darunter „100 Jahre Fotografie in Kastilien und León vor 1939“ (April bis Mai), „Die Geister, das Gold und der Schamane“ (Juni bis August) mit Exponaten aus dem Goldmuseum in Kolumbien sowie drei Ausstellungen im Herbst, die sich unter dem Titel „Comer o no comer“ mit dem Verhältnis von Kunst und Essen beschäftigen. „Lebendige Kunstwerke“ führen vom Anfang des Stilllebens bis zum Impressionismus, die „Seelenzustände“ durchleuchten das 20. Jahrhundert, „Essen, schaffen, denken, genießen“ zeigt den Wertezerfall in der Kunst von 1968 bis in die Gegenwart.

Das seit der Franco-Diktatur in Salamanca ansässige Archiv für den Spanischen Bürgerkrieg stellt zwischen April und Juni seinen Fundus erstmals einer breiten Öffentlichkeit vor. Werke bedeutender Künstler und Schriftsteller, Plakate und Fotografien, darunter auch Bilder von Kati Horna und Robert Capa, dokumentieren den Propagandakampf zwischen Republikanern und Franco-Anhängern. Das Generalarchiv ist erst seit den Achtzigerjahren für Forschungszwecke zugänglich. In den frühen Vierzigerjahren sammelte es Beweismittel für Prozesse gegen Regimegegner; heute untersteht es dem Kulturministerium in Madrid.

In der ruhelosen Gran Via reihen sich Adelspaläste und Bürgerhäuser, Tapas-Bars und Clubs aneinander. Erst nach Mitternacht sind die Läden brechend voll. Wir tauchen im Submarino unter: Salamancas schrillstem Club, der von seiner Ausstattung her einem treibenden Schiffswrack gleicht. Für den letzten Tag verabreden wir uns in der Cafeteria der Philologen, einem rot geziegelten und verrauchten Kellergewölbe, dem ehemaligen Pferdestall. Raquel hat für uns zwei weitere Tipps parat, zum einen die ältesten Graffiti der Stadt, zum anderen: „Schau dir den Himmel an!“ Der nämlich soll sich im Museum der Universität öffnen.

Durch ein Vestibül gelangt man ins Uni-Museum, wo jetzt der „Cielo de Salamanca“ untergebracht ist. Die Besucher legen die Köpfe in den Nacken. Das gewölbte Deckengemälde von Fernando Gallego aus dem Jahre 1476, die Darstellung des astrologischen Wissens zum Ende des 15. Jahrhunderts, wirkt wie ein frühes Planetarium: Gestirne, Tierkreiszeichen und Symbole des Humanismus steigen im Gewölbe auf, die Himmelsrichtungen werden durch vier pausbackige Winde symbolisiert. Über Jahrhunderte war der Himmel von Brettern überdeckt, erst 1951 wurde er wiederentdeckt. Nur ein Drittel des 400 Quadratmeter großen Gemäldes konnte gerettet werden. Jetzt wurde das Fresko zum offiziellen Emblem abstrahiert: Sieben weiße und fünf gelbe Sterne auf blauem Grund – die zwölf Gestirne der EU-Länder leuchten im Jahr 2002 im Himmel über Salamanca.