„Schulen haben den Auftrag zur Integration“

Der Erziehungswissenschaftler Frank-Olaf Radtke über Selektionsmechanismen und die Abschiebetechniken des dreigliedrigen Schulsytems

taz: Die Ergebnisse der Pisa-Studie in Bezug auf Kinder mit Migrationshintergrund dürften Sie nicht überrascht haben.

Frank-Olaf Radtke: Seit den 70er-Jahren wurde in Fachkreisen und Politik darüber diskutiert, dass es einen überdurchschnittlich hohen Anteil von Migrantenkindern ohne Schulabschluss und an Sonderschulen gibt. In den 80ern wurde dies überdeckt vom Rückgang der deutschen Schülerzahlen. Aber spätestens seit Mitte der 90er geht die Schere wieder auf, das Verhältnis verschlechtert sich.

In Ihrer Studie untersuchen Sie Ungleichheit, die die Schule selbst erzeugt. Ist das nicht ein schwerer Vorwurf?

Der pädagogische Grundmechanismus, den wir im deutschen Schulsystem identifiziert haben, ist die Bevorzugung von Homogenität. Schulen wollen Klassen, in denen die Schüler gleiche Voraussetzungen für den gemeinsamen Unterricht „im Gleichschritt“ mitbringen. Dies wird vom mehrgliedrigen Schulsystem unterstützt. In keinem anderen Land besteht auf vergleichbare Weise die Möglichkeit, Schüler in die nächstniedrigere Schulform zu delegieren, um nicht zu sagen, abzuschieben. In einem Einheitssystem muss die Schule, wenn sie ein Problem mit einem Schüler und seinen Leistungen hat, selbst eine Lösung finden; das zeigen die Beispiele aus Skandinavien. Hierzulande besteht immer die Möglichkeit, sich für unzuständig zu erklären.

Sitzenblieben wird also als Fördermaßnahme verkauft?

Ja, allen Ernstes. Dass diese Form des Förderns zugleich scharfe Selektion bedeutet, wird im Dunkeln gehalten. Kinder, die immer wieder zurückgestellt werden, erleben dies als traumatische Zurückweisung. Die Frage, die etwa in Hessen derzeit diskutiert wird, ob Kinder ohne Deutschkenntnisse überhaupt in die Schule aufgenommen werden können, ist nur die Spitze dieses Selbstverständnisses der Schule.

Wozu ist Schule denn da?

Um Kindern die Standardsprache und andere Kulturtechniken beizubringen! Heute heißt es, sie müssten das schon mitbringen. Das deutsche Schulsystem leistet sich eine solche Haltung, weil man glaubt, über die Interessen von MigrantInnen, die in dieser Gesellschaft keine Stimme haben, zugunsten der einheimischen Mittelschichteltern und ihrer Konkurrenzängste hinweggehen zu können.

Welche Forderungen ergeben sich aus Ihrer Studie?

Kernpunkt des Problems ist natürlich das dreigliedrige Schulsystem, auch wenn alle Parteien nicht daran rühren wollen. Wenn man keine Strukturdebatte führen will, dann müssen kleinere Lösungen her. In der neuen Integrationsdiskussion liegen durchaus Chancen. Wir brauchen ein lokales Integrationsmanagement. Für die Schulen heißt das, Integration, messbar an qualifiziertem Schulerfolg für alle Gruppen, in ihre Zielvereinbarungen aufzunehmen. In der Schulentwicklungsplanung muss überlegt werden, in welche Stadtteile Ressourcen gegeben werden, wie Schulen aufgewertet werden können, wie eine bessere Verknüpfung mit der Jugendhilfeplanung geschehen kann. Grundsätzlich gilt, dass wir an der lokalen Mechanik der Lenkung von Schülerströmen eines Schulsystems ansetzen müssen. Aus dem angelsächsischen Raum kennen wir das ethnic monitoring. Das bedeutet eine regelmäßige Berichterstattung über den Integrationsstand, die Suche nach Ursachen und Lösungen für noch vorhandene Differenzen und Defizite. Die Schulen haben einen Auftrag zur Integration. Sie müssen ihn auch wahrnehmen und sich dabei beobachten lassen. INTERVIEW:
VERONIKA KABIS-ALAMBA

Prof. Dr. Frank-Olaf Radtke ist Professor am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main.