Diese Tics

Pascal leidet unter dem Tourette-Syndrom. Er macht Bewegungen, die er nicht will. Deshalb glauben die Leute manchmal, er nehme Drogen

von SANDRA WILSDORF

Erst dachte seine Mutter, es läge an den Computerspielen und am Fernsehen. Sie rationierte die Zeit an der Playstation: maximal eine Stunde pro Tag. Doch Pascal machte weiter diese seltsamen Bewegungen. Mal schob er den Kopf nach vorne und von unten nach oben. Mal drehte er Pirouetten oder streckte die Zunge raus, mal schüttelte er die rechte Hand und mal die linke, als wollte er sie von sich werfen. Immer wieder, minutenlang.

Ein Arzt sagte zu der Mutter: „Werden Sie erst mal ein bisschen ruhiger, dann ist ihr Sohn auch nicht so nervös.“ Sylvia Reiche versuchte es. Doch Pascal schüttelte, zuckte, drehte sich weiter. „Ich konnte nichts dafür. Ich habe meiner Mutter gesagt, dass ich das nicht mit Absicht mache, aber sie hat mir nicht geglaubt“, erzählt er. Die Mutter dachte, „Pascal will mich veräppeln“. Sie habe ihn angeschrien und nachgemacht. Sie war wütend auf ihren Sohn. „Wir hatten oft Streit“, sagt er. Und sie: „Es war ein furchtbares Jahr.“

Drei Jahre ist das jetzt her. Seitdem haben die unkontrollierbaren Bewegungen einen Namen: Pascal leidet an dem Tourette-Syndrom. Aufwendige Untersuchungen bei einem Kinderneurologen bestätigten, was zuvor ein Arzt vermutet hatte, als ihm Pascals Tante von den Zuckungen ihres Neffen erzählt hatte. „An dem Abend, als wir die Diagnose hatten, bin ich zu ihm ins Zimmer gegangen und habe mich entschuldigt“, erzählt Sylvia Reiche. Mutter und Sohn haben zusammen geweint. „Es tut mir so leid, was ich ihm angetan habe“, sagt sie. Pascal hat ihr längst vergeben und weiß, dass er Recht hatte, als er sagte: „Ich mache das nicht mit Absicht.“ Denn bei Menschen, die unter dem Tourette-Syndrom leiden, führt der Körper ein Eigenleben.

Einerseits ist der 15-Jährige froh, dass er jetzt weiß, warum sein Körper Dinge tut, die der Kopf ihm nicht befiehlt. Er nimmt Beruhigungsmittel, die die „Tics“ lindern. Aber andererseits will Pascal die Krankheit nicht, denn sie wird ihn vermutlich sein Leben lang begleiten.

In den ersten zwei Jahren nach der Diagnose verkriecht er sich zu Hause. Wenn seine Mutter fragt, „was Du da machst, ist das ein neuer Tic?“, dreht er sich um, knallt die Tür zu. In seiner Schule, der Gesamtschule Wilhelmsburg, wissen alle Bescheid, auf dem Kinderbauernhof in Wilhelmsburg, wo Pascal die Vögel und die Frettchen pflegt, auch. Aber sein Horror ist, irgendwo hingehen zu müssen, wo ihn niemand kennt. Pascal lernt, das Syndrom zu unterdrücken. „Bis zu eineinhalb Stunden kann ich mich so konzentrieren, dass man es nicht merkt“, sagt Pascal. Wenn er nicht mehr kann, verlässt er unter einem Vorwand den Raum und schöpft neue Kraft. Aber hinterher ist es dann umso schlimmer.

Heute greift er immer seltener zu der Methode und steht immer häufiger zu seiner Krankheit. Pascal ist Leistungsschwimmer, wurde im vergangenen Jahr Dritter bei den Hamburger Meisterschaften. Als er neulich bei einem Wettkampf auf dem Startblock stand, kam ein Mädchen vorbei und fragte: „Warum zuckst Du so blöd?“ „Ich bin krank“, sagte er. Nach dem Wettkampf kam sie zu ihm und entschuldigte sich. Das sind Erlebnisse, die Pasacal darin bestätigen, dass er den richtigen Weg eingeschlagen hat. Auch wenn er auf der Straße angemacht wird, „ey, nimmst Du Drogen?“, kontert er inzwischen mit „Ich kann nichts dafür, das ist eine Krankheit.“ Meistens hilft das.

Pascal spricht offen über seine „Tics“ und erträgt, dass seine Mutter „von einem tollen Tic“ erzählt. Das war, als er zwanghaft den Kühlschrank aufräumen musste. „Aber den hatte er leider nur drei Wochen.“ Pascal hat erkannt: „Nur wenn viele Menschen über die Krankheit Bescheid wissen, werde ich vielleicht irgendwann nicht mehr angemacht“.