„Pretty Woman“ aus Bombay

Kaschmir in den Schweizer Alpen, Liebe ohne Zukunft, Tanzen bis zur Rasarei: Mit einer zehnteiligen „Bollywood“-Reihe feiert das Arsenal-Kino den Siegeszug des indischen Films auf dem Weltmarkt

Die Schauspieler bilden vor allem Gefäße, die Gefühle transportieren

von SUSANNE BURG

Wer es noch nicht mitbekommen hat: Die „Bollywoodisierung“ des Abendlandes steht an. Als stetige, mächtige Welle rollt die indische Filmindustrie gen Westen. Hieß es in den letzten Monaten. Die Beweisführung: „Lagaan“ ist für den Oscar nominiert worden, Mira Nairs „Monsoon Wedding“ hat im vergangenen Jahr den Goldenen Löwen bei den Filmfestspielen von Venedig gewonnen, und bei der Premiere von Andrew Llyod Webbers „Bombay Dream“ standen die Zuschauer im Juni in London euphorisch klatschend auf ihren Stühlen. Doch die Blase lässt sich relativ leicht zum Platzen bringen: Die US-Filmemacherin Mira Nair hat mit den großen Produktionen ihrer Kollegen aus Bombay herzlich wenig gemein. „Lagaan“ ist deutlich amerikanisiert. In Deutschland wagen sich bisher nur zwei Kinos daran, in den kommenden Wochen den vierstündigen Film in Hindi mit Untertiteln zu zeigen. Und was in England mit seiner großen asiatischen Bevölkerung Erfolg hat, muss in Deutschland nicht genauso funktionieren.

Der populäre indische Film läuft hierzulande nicht in den Multiplex-Kinos. Bollywood findet in Berlin ganz gesittet im Arsenal statt. Zehn Filme bieten eine Kurzfassung der Geschichte Bollywoods und einige der größten Produktionen der letzten zwei Jahre. Auf ein deutsches Publikum können die opulenten Dreistünder mitunter etwas befremdlich wirken. Wie passt es zusammen, wenn in „Dil Se“ eine Frau erst zitternd mitten in der Nacht auf dem Bahnsteig sitzt und in der nächsten Szene bei Sonnenschein hunderte Inder auf den Dächern eines Zuges tanzen und zehn Minuten lang zu den treibenden Beats von Tablas und Dhol-Trommeln wunderbar zuckrige Melodien singen? Wie fügen sich Gesang und Tanz in die Handlung? Warum wirbt der Journalist Amar bis zum Schluss unermüdlich heldenhaft und edel um die politische Extremistin Meghna, die ihn immer wieder böse im Regen stehen lässt?

Das ist komplett unrealistisch. Überhaupt wirken Bollywood-Filme formelhaft, die Zufälle übertrieben fantastisch, die Schauspieler klischeehaft wie bunte Abziehbilder. Eine solche Einschätzung schlittert natürlich konsequent an der Bollywood-Ästhetik vorbei. „Der populäre indische Film hat nicht die Logik der westlichen Filmdramaturgie“, erklärt Dorothee Wenner, Kulturwissenschaftlerin und im Internationalen Forum der Berlinale für die Bollywood-Reihe zuständig. „Man geht auch nicht ins Kino, weil man denkt: Das ist eine interessante Geschichte. Ich will mal sehen, wie die ausgeht. In Indien weiß man, bevor es losgeht, worum es geht. Man geht ins Kino, um neun Rasas zu durchleben, verschiedene Gefühlswelten: Liebe, Komik, Traurigkeit, Heldentum, Schrecken, Ekel, Wut, Wundersames und Friedvolles. Das folgt aufeinander.“ Für ein indisches Publikum ist es überhaupt kein Problem, dass in „Kabhi Khushi Kabhi Gham“ (2001) ein Sohn nicht nur erfahren muss, dass er adoptiert ist, sondern auch gleich noch vom Vater verstoßen wird. Das hindert niemanden daran, zwischendurch ausgelassen zu feiern. Tragik und Tanz gehören zusammen. Die Schauspieler müssen nicht realistisch sein, sie bilden vor allem Gefäße, die die Gefühle transportieren.

Der populäre indische Film ist eine Kunstwelt, die herrschaftliche Vergangenheit, heilige Ewigkeit und heile Gegenwart verknüpft.

Die Actionfilme der Siebziger- und Achtzigerjahre, im Arsenal mit „Sholay“ (1975) vertreten, haben College-Filmen, Komödien und Geschichten um Hochzeitsdramen und triefenden Liebesgeschichten Platz gemacht. Wer etwas auf sich hält, dreht im Ausland. Der Zusatz „Shot in Switzerland“ auf dem Filmplakat dient als Verkaufsanreiz. Dabei hielt der Drehort Schweiz zunächst mehr als Notlösung her. Bis in die Neunzigerjahre haben Regisseure die für den indischen Film wichtigen paradiesischen Szenen in den sanften Gebirgen Kaschmirs gedreht – bis sich die politische Situation so sehr zuspitzte, dass man in die Schweiz ging. Die schneeverzierten Alpengipfel erschienen exotisch und paradiesisch genug, um die Stars dort ihre melodischen Liebesschwüre leisten zu lassen. Inzwischen dient die Schweiz nicht nur als malerische Hintergrundkulisse, sondern ist – wie in „Chori Chori, Chupke Chupke“ – selbst Ort der Handlung geworden.

Die jüngeren Produktionen im Arsenal lassen erkennen, dass der indische Film in Drehort und Handlung auf die veränderte wirtschaftliche Situation reagiert. Bollywood hat in den letzen Jahren gen Westen geschaut und ihn nachgeahmt, denn die wachsende Mittelschicht des Landes will sich mit dem Perpetuum mobile der Unterhaltung und der Selbstbezogenheit der Geschichten nicht mehr begnügen. Die College-Geschichte „Mohabattein“ erinnert an „Der Club der toten Dichter“, die Leihmutter-Komödie „Chori Chori, Chupke Chupke“ an „Pretty Woman“. Natürlich spekuliert die Industrie mit den Auslandsproduktionen auch auf den internationalen Markt, auf die zahlungskräftigen indischen Emigranten. Deutschland erscheint dabei allerdings nicht sofort auf dem Radar indischer Filmstrategen. Die Bollywood-Kopien, die vor einiger Zeit für die Berlinale ans Forum geschickt worden waren, kamen ohne Tanzszenen an. Die indische Produktionsfirma hatte sie einfach rausgeschnitten, weil sie dachte, dass die Deutschen der Gesang langweilen würde. Die zehn Produktionen, die das Arsenal nach Berlin bringt, erscheinen in diesem Licht betrachtet wie wertvolle Perlen. Von einigen Liebhabern herausgefischt aus dem großen Bollywood-Meer, das irgendwo auch an fremden europäischen und amerikanischen Ufern sanfte Wellen schlägt.