„Man braucht halt Glück“

Ein Gespräch mit Markus Merk, dem einzigen deutschen Schiedsrichter bei der WM in Japan und Korea, über gravierende Fehler, Kritik von außen, Druck von oben und die Neuerfindung des Rades

Interview THOMAS PLÜNNECKE

taz: Konnichiwa, Dr. Merk san! Haben Sie nach fünf Wochen Asien noch Umstellungsprobleme oder liegt der Bohrer schon wieder sicher in der Hand?

Markus Merk: Nein, Zeit- und Klimaveränderungen machen mir nichts. Da bin ich flexibel.

Sie sind zweimal zum Einsatz gekommen, wurden dann durch den Erfolg des DFB-Teams ausgebremst. Traurig?

Natürlich hätte ich gerne mehr mitgenommen. Wir sind aber eine Fußballnation, für die der Erfolg der Nationalmannschaft ganz, ganz wichtig ist. Da stehe ich gerne einen Schritt zurück.

Wenn Sie in einigen Jahren als Rentner durch Ihre pfälzische Heimat wandern, welche Erinnerungen bleiben von der Fußball-WM 2002?

Es gab viele tolle Momente. Die letzten Minuten vor dem Anpfiff oder der Kontakt mit Schiedsrichtern, die sonst rund um den Erdball verstreut sind – eine Multikultitruppe. Sich mit denen auszutauschen, fußballerisch oder persönlich, ist ein Erlebnis, das man nicht oft bekommt. Meistens ist man mit seinen beiden Assistenten, einem festen Gespann, irgendwo in Deutschland oder Europa unterwegs.

Gerade dass die Gespanne diesmal für jedes Spiel neu zusammengestellt wurden, stand im Zentrum einer lebhaften Schiedsrichterdiskussion.

Wir leben in einer Negativgesellschaft, in der über das Negative mehr diskutiert wird und in der sich das Negative besser verkauft. Gerade bei einer WM wird immer wieder etwas hochgekocht, das in anderen Spielen gar nicht so hervorgehoben worden wäre. Über alle 64 Spiele gesehen, waren die Schiedsrichterleistungen gut.

Sie haben also nicht das Gefühl, dass mehr Fehler gemacht worden sind als bei vorangegangenen Turnieren?

Es wurden immer Fehler gemacht, auch bei dieser WM. Wo Menschen Entscheidungen treffen müssen, noch dazu in Sekundenbruchteilen, werden auch in Zukunft immer Fehler passieren. Es sei denn, der Fußball wird voll technisiert und damit seines eigentlichen Reizes beraubt.

Trifft Sie Kritik oder prallen Vorwürfe an Ihnen ab?

Wenn man keine Kritik aufnimmt, kommt es zum Stillstand – und der ist schlecht. Es ist aber wichtig, zwischen angebrachter und unangebrachter Kritik zu unterscheiden. Ich bin selbst mein größter Kritiker und weiß nach einem Spiel genau, was ich gut gemacht habe oder hätte besser machen können.

Wird während einer WM über strittige Entscheidungen gesprochen?

Schiedsrichter und Kommission haben täglich mindestens eine Stunde die Spiele vom Vortag analysiert. Dabei wurden aber nicht nur strittige Entscheidungen angesehen, sondern insbesondere auch positive Situationen hervorgehoben. 90 bis 95 Prozent aller Entscheidungen sind richtig. Damit sind weniger Schiedsrichterentscheidungen falsch, als der beste Spieler Fehler macht. Einziger Unterschied: Wenn etwa Oliver Kahn oder David Seaman danebengreifen, werden sie vom ganzen Umfeld getröstet; liegt ein Schiedsrichter daneben, wird er verflucht.

Wie leicht fällt es Ihnen, eine bestimmte Situation am Fernseher nachzuvollziehen? Ich denke da etwa an den Italiener Francesco Totti, der im Achtelfinale gegen Südkorea nach einer vermeintlichen Schwalbe die gelb-rote Karte gesehen hat.

Wenn ich Bilder auf dem Bildschirm sehe, bin ich zunächst genauso schlau wie jeder andere. Das ist eine ganz andere Situation als für den Zuschauer im Stadion oder den Schiedsrichter auf dem Platz. Meine Sichtweise ist allerdings nicht nur auf das Fernsehbild fixiert. Ich kenne den Blickwinkel eines Schiedsrichters und kann nachempfinden, was bei dieser Entscheidung passiert ist. Im Übrigen sieht man das Fernsehbild zwar aus vielen verschiedenen Positionen, hat am Schluss aber doch oft keine Entscheidung, die hundert Prozent glücklich macht.

Achtet man nach kritischen Äußerungen, etwa von Fifa-Präsident Blatter, besonders penibel auf die angemahnten Aktionen, pfeift vielleicht kleinlicher als sonst?

Grundsätzlich gibt es vor einer nationalen Saison oder einem Turnier Anweisungen. Diese Anweisungen bilden Schwerpunkte, die zur Kenntnis genommen werden und zu befolgen sind. Letztendlich wäre es aber der verkehrte Weg, sich auf bestimmte Dinge zu fixieren und plötzlich seine ganze Spielleitung umzustellen. Man hat schließlich Persönlichkeit und Stil, ist nicht zuletzt deshalb in dieser Kategorie angesiedelt.

Stichwort Schiedsrichter-Auswahl. Für Sie oder Pierluigi Collina, die regelmäßig Europacupspiele pfeifen, sind Einsätze vor großer Kulisse normal. Glauben Sie, dass andere Kollegen dem Druck der WM-Bühne nicht gewachsen waren?

Es ist richtig, dass wir Europäer solche Situationen gewohnt sind und besser mit ihnen umgehen können. Das heißt aber nicht, dass wir auch automatisch die besseren Spiele pfeifen. Letztendlich braucht man auch das Quäntchen Glück.

Halten Sie die Länderquote, nach der 36 Schiedsrichter aus 36 Ländern für eine WM nominiert werden, für das richtige Auswahlverfahren?

Man kommt nur schwer um sie herum. Wenn sich allerdings zwei, drei Topschiedsrichter von großen Fußballnationen anbieten, müssen die berücksichtigt werden. Allerdings können auch kleinere Länder sehr gute Schiedsrichter haben. Letztendlich sollen die Besten pfeifen.

Sind die besten Schiedsrichter nominiert worden?

Absolut! Unter den gegebenen Auswahlkriterien waren das die Besten. Das sind keine Zufallsschiedsrichter, die man genommen hat, um irgendwo auf der Landkarte einen Punkt zu machen. Die Schiedsrichter sind über Jahre beobachtet worden, haben ständig starke, große Spiele gepfiffen – nämlich WM-Qualifikationen oder Wettbewerbe in den einzelnen Konföderationen. Das ist ein kompliziertes Auswahlverfahren.

Beim Weltverband sieht man scheinbar akuten Handlungsbedarf. Im Gespräch sind feste Gespanne oder die Einbindung eines weiteren Schiedsrichters.

Das ist doch nichts Neues. Solche Überlegungen hat es schon vor 30 Jahren gegeben. Alles, was das Leistungsprinzip verbessert und gut für den Fußball ist, muss durchgeführt werden. Nur eines ist klar: Etwas Neues erfinden, das geht nicht. Das Rad ist erfunden und kann nicht neu erfunden werden.