Stadt als Projektraum

Zum Weltkongress der Architektur zeigen bald einhundert Galerien, wie KünstlerInnen mit ArchitektInnen neue Formen des Bauens entwickeln

von ULRICH CLEWING

Die Elisabethkirche ist nicht das Stadtschloss, und deshalb muss man sie auch nicht erst wieder aufbauen. Noch steht sie – und gibt eine schöne Leiche ab: Putz fällt ab, Steine brechen, der Vorplatz ist ein Sandhaufen. Eines aber haben sie gemein, das intakte virtuelle Schloss und der ruinöse reale Schinkelbau an der Invalidenstraße. Beide wurden von Architekten errichtet, die auch Maler und Bildhauer waren.

Insofern hat es schon seine hintergründige Richtigkeit, dass das Ausstellungsprojekt „rethinking: space, time & architecture“ am Donnerstag im unmittelbar hinter der Elisabethkirche gelegenen Pfarrhaus der Sophiengemeinde präsentiert wurde. Für das Rahmenprogramm des erstmals in Berlin stattfindenden Weltkongresses der Architektur konzipiert, ist es das erklärte Ziel von „rethinking: space, time & architecture“, das in den letzten Jahrzehnten oft gestörte Verhältnis von Kunst und Baukunst neu zu definieren. Hier soll der Wettstreit der Gattungen einmal von gegenseitigem Argwohn und Konkurrenzgebaren befreit werden, sollen das Nützliche und das Nutzlose, die Freiheit des Gedankens und der Pragmatismus zusammengehen, ineinander greifen und sich im günstigen Fall untrennbar vereinen.

Dabei ist die Idee, die dem vom Bund Deutscher Architekten und den Staatlichen Museen zu Berlin getragenen Projekt zugrunde liegt, eigentlich recht einfach: Pro Ausstellungsort gibt es jeweils einen Architekten oder eine Architektin (oder ein Architekturbüro) und einen Künstler/eine Künstlerin, die gemeinsam eine Arbeit zeigen. Dieses Prinzip wurde weitgehend durchgehalten, nur bei einigen wenigen Gelegenheiten verzichtete eine der Seiten auf die andere, was dann auch nicht unbedingt ein Nachteil war. Zumal die Resonanz in der Vorbereitungszeit, so der Architekt Steffen Lehmann, der „rethinking: space, time & architecture“ mit seiner Kollegin Caroline Raspé initiierte, „überwältigend“ war. Ursprünglich wollten Lehmann und Raspé sich auf zehn ArchitektInnen und zehn KünstlerInnen in zehn Galerien beschränken. Tatsächlich umfasst die Liste inzwischen mehr als neunzig Paare an ebenso vielen Orten. Bis zum 20. Juli, dem offiziellen Beginn der Reihe, werden wohl noch etliche in letzter Minute dazukommen.

Das wiederum ist aus verschiedenen Gründen nicht weiter verwunderlich. Zum einen sind gerade private Galerien prädestiniert, Experimente zu wagen, die in etablierteren Regionen anderswo unmöglich sind. Ein Umstand, den Lehmann in seiner Einführung beinahe emphatisch beschwor und der sowohl für KünstlerInnen als auch – wie man auf den Berliner Großbaustellen eindrucksvoll besichtigen kann – für ArchitektInnen gilt. Zum anderen ist da natürlich das Problemfeld „Kunst am Bau“: Es ist noch nicht lange her, dass das Baugeschehen in der Stadt eine regelrechte Goldgräberstimmung auslöste unter deutschen GaleristInnen und so manchen renommierten Kunsthändler aus dem Rheinland in der Hoffnung auf erfolgreiche Geschäfte mit Investoren und Bauträgern hierhertrieb.

Aber worin besteht, abgesehen von der schieren Menge, das Besondere der Projekte von „rethinking: space, time & architecture“? Zahlreiche Einzelausstellungen laufen bereits, und sie beweisen, dass Vielfalt mittlerweile das Gängige ist. Künstlerinnen wie Franka Hörnschemeyer (mit Birgit Hansen bei Micha Kapinos) dekonstruieren Architektur, drehen das Innere nach Außen, zerlegen sie in ihre Bestandteile. Andere, etwa der Künstler-Architekt Dan Graham mit seinem gläsernen Pavillon Café Bravo im Hof der Kunst-Werke (die im Übrigen heute eine Werkschau des Architektenbüros Sauerbruch und Hutton eröffnen), denken nach – über sich selbst, die Produktionsbedingungen und die Mechanismen der allgemeinen Wahrnehmung. Wieder andere betrachten die Stadt von oben, untersuchen die Wechselwirkung von Urbanität und Anonymität und erkennen darin ein Muster, das vor allem ästhetischen Regelmäßigkeiten folgt (Cida de Aragon und Steffen Lehmann bei Eigen + Art).

Am spannendsten jedoch erscheinen die Arbeiten, die positive Utopien ins Spiel bringen, und das schon allein deshalb, weil positive Utopien im Moment nicht große Konjunktur haben. Der Künstler Tobias Hauser gehört zu denjenigen, die als Co-Autoren keinen lebenden, sondern einen historischen Architekten gewählt haben. Im März 1845 machte sich der Naturkundler und Landvermesser Henry David Thoreau (1817–1862) daran, in einem Wald in der Nähe von Concord, Massachusetts, den anderen, heute gern vergessenen Aspekt des amerikanischen Traums in die Realität zu überführen. „Ich zog in den Wald“, schrieb Thoreau später, „weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näherzutreten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hatte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müsste, dass ich nicht gelebt hatte.“ Also baute er eine schlichte hölzerne Blockhütte, welche die einfachsten äußeren Bedürfnisse befriedigte und damals ganze 28 Dollar kostete. Zwei Jahre hauste Thoreau abgeschieden in der Wildnis, um nachzuweisen, dass man von anderen Menschen unabhängig existieren und dabei trotzdem glücklich werden konnte. Um Anhänger für seine Vorstellungen zu finden, veröffentlichte er danach ein Buch, in dem er eine genaue Bauanleitung seiner Einsiedlerklause abdruckte.

Dieses seltsame Vorhaben hat Tobias Hauser in seinem Beitrag aufgegriffen. In freier Form rekonstruierte er Thoreaus Hütte und tat das mitten in Berlin – an jener Stelle gegenüber den Hochhäusern am Potsdamer Platz, die dereinst den Leipziger Platz bilden wird. Da steht es nun, das armselige Ding, buchstäblich als Fremdkörper im Zentrum der Metropole, und fühlt sich gut.

Ein Faltblatt der Ausstellungsorte von „rethinking: space, time & architecture“ liegt in Galerien und Museen aus.