„Alles verdrängt“

Deutsche Journalisten vergessen viel und passen sich gern an: Berlusconi hätte wenig Widerstand zu befürchten

taz: Wie viele NS-Journalisten haben nach 1945 Karriere gemacht? Waren es nur „Einzelfälle“, wie Augstein für den Spiegel behauptet hat? Oder hatte die Sache System?

Lutz Hachmeister: Es gab eine systematische Kontinuität – vor allem in den unteren und mittleren Redakteursrängen. Etwa Zweidrittel hatten schon während der NS-Zeit publiziert.

Also keine Kontinuität der Elite, aber der Redaktionen?

Ja und nein. Wer zur NS-Zeit Chef war, hatte Schwierigkeit, dies wieder zu werden. Gute Chancen hatten Jüngere wie Rudolf Augstein oder Henri Nannen, die im NS-Staat Journalisten gewesen waren, aber nicht in Spitzenpositionen.

Gab es eine inhaltliche Kontinuität von NS-Weltbildern?

Den NS-Staat wollte niemand zurückhaben. Die jüngere NS-Intelligenz hatte 1945 begriffen, dass dieses Modell tot war. Erhalten blieben allerdings manche rassistischen und geostrategischen Politikideen. Die wurden, wo sie zur neuen Weltlage passten, abgemildert fortgesetzt.

Zum Beispiel?

Stern und Spiegel in den Fünfzigern. Dort finden sich viele Artikel im Landser-Jargon, die die schlagkräftige deutsche Wehrmacht feiern. Und Augsteins Opposition gegen Adenauer speiste sich nicht aus linken, sondern aus nationalistischen Motiven. Er wollte ein größeres Deutschland – daher die Gegnerschaft zu Adenauers rheinischem Separatismus. Deshalb verstand Augstein sich mit manchen Exnazis so gut, die im Reichssicherheitshauptamt an ähnlichen Konzepten gearbeitet hatten.

Die liberale Presse, die die Deutschen in den Fünfzigern mit der Demokratie vertraut gemacht hat – ist das also eine Legende?

Weitgehend ja. Die alliierte Pressepolitik war bitternötig. Ohne Druck von außen hätte es noch viel mehr antisemitische, rassistische Sterotype gegeben. Das gilt für die Verlage noch mehr als für die Redaktionen. Dort gab es besonders viele Exnazis, die gute Kontakte zur Industrie hatten und bei alten Kameraden Werbung akquirierten.

Es gibt den berühmten Fall des SS-Sturmbannführers Erich Fischer, der im Reichspropagandaministerium der dritte Mann gewesen war. In den Fünfzigern wurde er Anzeigenchef des Spiegel in NRW. Kurzum: Strukturen, die sich in SS, SD und Propagandaministerium gebildet hatten, wurden auf die Bundesrepublik übertragen.

Warum hat es so lange gedauert, bis die Verstrickung in die NS-Geschichte zum Thema wurde? Woher die Blockade?

Es gab bei den Journalisten Elitenetzwerke, in denen Korpsgeist herrschte. Das hat Aufklärung behindert. Kein Journalistenverband, weder DJV noch IG Medien, hat sich je wirklich damit befasst. Auch die Wissenschaft hat versagt. Systematische Untersuchungen gibt es erst seit den Neunzigern. Die Aufklärung begann also in dem Moment, in dem viele Protagonisten nicht mehr lebten, in dem Aufklärung nicht mehr richtig weh tat.

Der Film legt nahe, dass die Spiegel -Affäre 1962 der Wendepunkt im deutsche Journalismus war. Davor saß man mit Adenauer beim Teegespräch, danach war man selbstbewusste vierte Gewalt. Stimmt das?

Halb. Im Ergebnis ja. Doch die Geschichte der Affäre war eine Groteske. 1954 hat der Spiegel dem Geheimdienstmann Gehlen, der dann BND-Chef wurde, eine freundliche Titelstory gewidmet. Seitdem gab es eine Art Steuerung des Blattes durch den BND. Man tauschte Informationen aus und zog an einem Strang. Das ging so weit, dass Spiegel und BND gemeinsam Strauß bekämpften. Dieses Getümmel von publizistischen, militärischen und geheimdienstlichen Interessen mündete in der Spiegel-Affäre. Die Affäre selbst war weniger heroisch als ihr Effekt.

Viel Verdrängung, schleppende Aufklärung. Welches Resümee ziehen Sie daraus?

Ich frage mich: Wie würde sich der deutsche Journalismus heute in einem autoritären System verhalten? Ich rede nicht von einer Wiederkehr des NS-Staates. Aber denken Sie an Berlusconi. Es ist eine Illusion, dass deutsche Journalisten mutiger wären als italienische – im Gegenteil. Wer so unfähig ist, über sich selbst nachzudenken, eignet sich zum Funktionieren – nicht zum Nein sagen.

INTERVIEW: STEFAN REINECKE