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Steinbrüche und Edelsteine

Avignon revisited: Lange Nächte mit Tschechow, noch längere mit Durell und kurzweilige Weltmosaiken mit Josef Nadj, der in seinen verschlungenen Domino-Choreografien auf engstem Raum von den Zufällen des Denkens und der Bewegung erzählt

aus Avignon JÜRGEN BERGER

Goethe mühte sich bis ins Alter mit seinem „Faust“. Tschechow packte bereits in Studienjahren alles, was er über die Liebe und die Langeweile wusste, in seinen „Platonow“. Später benutzte er den ausufernden Text eher als Steinbruch. Der Frauenheld und Menschenverächter Platonow ist zum Zyniker geworden, weil sich in der Welt und mit den Frauen anscheinend alles nur wiederholt. Dass der Intendant des Centre Dramatique National de Normandie in Caen, Éric Lacascade, jetzt ausgerechnet Tschechows „Jugendsünde“ für das Festival in Avignon inszeniert – und dann noch im Papstpalast, ist außergewöhnlich.

Normalerweise beschäftigt man sich in der wohl größten Freiluftarena für Sprechtheater eher mit französischem Wortgut – wenn nicht gerade Tanzproduktionen von Pina Bausch oder wie jetzt Sasha Waltz’ „no Body“ eingeladen werden. Dazu ist „Platonow“ ein kleinteiliges Stück und seine Platzierung zur Festivaleröffnung insofern ein Wagnis, als Lacascade die mehr als 2.000 Zuschauer im windigen Ehrenhof auch noch nahezu fünf Stunden auf ihren Plätzen halten will.

Zu Beginn klappt das auch, da mit Christophe Grégoire ein Platonow im Rennen ist, der die Inszenierung zusammenhält und zu jenen Schauspielern zählt, auf die große Bühnenräume nicht so einschüchternd wirken, dass sie den Text schreien wollen. Grégoire ist ein Meister der kleinen Verlegenheitsgesten und des geflüsterten Onnui. Taucht seine Jugendliebe auf und will Sofia dann partout wegen Platonow ihren Mann verlassen, müsste der eigentlich seinen Weltekel ablegen. In diesen Passagen hat Christophe Grégoire mit Daria Lippi Brusco ein bemerkenswertes schauspielerisches Gegengewicht an seiner Seite. Eigentlich hätte also alles gut werden müssen, zumal Lacascade als Erster die riesige Rückwand des Papstpalastes bespielt, wobei es ihm gelingt, in den großen und kleinen Fenstern der wohl an die zehn Stockwerke hohen Kulisse die „Platonow“-Personnage immer wieder wie Absturzkandidaten in einem Adventskalenderblatt zu platzierten. Allein, Eric Lacascade vertraute dann doch nicht den Stärken seiner Inszenierung, marktschreierische Partyszenen folgen, sterile Designereinschübe und sonstige Extravaganzen.

Irgenwann scheint der Theaterchef aus Caen die Übersicht im Steinbruch des Herrn Tschechow verloren zu haben. Vielleicht hatte er ja auch nur Angst, das Publikum laufe ihm davon, wenn er nach Mitternacht nichts Spektakuläres mehr bieten kann – eine Angst, die Josef Nadj auf keinen Fall kennt. Der Choreograf vom Centre Choréographique National d’Orléans hat sich zum interessantesten euroäischen Grenzgänger zwischen Tanz, Theater und bildender Kunst entwickelt. Jetzt ist er mit „Die Philosphen“ angereist, für das er einen Seelenverwandten kontaktierte: den Galizier Bruno Schulz (1892 bis 1942), von einem Gestapo-Offizier erschossen und mit „Straße der Krokodile“ bekannt geworden.

Nadj verwendet Motive des Romans und lässt die Zuschauer in einer Messehalle draußen im Süden Avignons zuerst einmal mit einer Videoinstallation allein. Auf den Monitoren im Rundbau sind Nadj und vier weitere Tänzer zu sehen – wie sie scheinbar bewegungslos unter Fenstern kauern, kopfüber in Türrahmen hängen und wie somnambule Slow-Motion-Ameisen Angst haben, von größeren Insekten gefressen zu werden. Dann geht es ins Innere der runden Spielstätte, wo die Geschichte der fünf Vergeblichkeitsclowns als kleiner Film wie ein Waldspaziergang à la Beckett zu sehen ist. Für den letzten Teil des Triptychons entfernen die fünf Tänzer die Projektionsleinwände und tanzen eine jener verschlungenen Domino-Choreografien, mit denen Nadj berühmt wurde und in denen er auf engstem Raum von den Zufällen des Denkens und der Bewegung erzählt.

Nadj ist ein Heros der kleinen Form und braucht nur einen Stein. Den zertrümmert er und setzt aus den Einzelteilen ein labyrinthisches Weltmosaik zusammen. Stuart Seide, Intendant des Théâtre du Nord in Lille, benötigt gleich zwei Steinbrüche, um nichts zu erzählen. Der erste liegt etwa neun Kilometer außerhalb Avignon und ist jene schöne runde Kulisse, in der Peter Brook vor Jahren sein legendäres „Mahabarata“ zeigte. Seide nun nimmt den Tausend-Seiten-Steinbruch „Das Alexandria Quartett“ des Diplomaten und Romanciers Lawrence Durrell (1912 bis 1990), um nach mehr als fünf Stunden die Frage unbeantwortet zu lassen, was ihn an Durrells Geschichten von der Liebe in Zeiten ihres Verfalls interessiert haben könnte. Dass der Steinbruch an der Rhône so selten bespielt wird, liegt daran, dass seine Ausstattung als Spielstätte kostspielig ist. Dass Teures nicht unbedingt gut sein muss, mag eine triviale Erkenntnis sein, wahr ist sie doch. Wer Steinbrüche nicht unbedingt reizvoll findet und eher kleine Edelsteine mag, sollte sich also an Nadj halten. Und dann gibt es ja auch noch die mehr als vierzig anderen Produktionen der bis Ende des Monats laufenden Theaterolympiade im heißen Süden Frankreichs.

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