stefan kuzmany über Alltag
: Signieren mir Rollstuhl-Manni

Nicht nur der Bundespräsident hat ein Problem mit der Unterschrift. Wir alle sind täglich davon bedroht

„Und jetzt müssen Sie das nur noch hier unterschreiben.“ Ich zögerte. Die Gewerkschaft hatte mir abgeraten. Der Arbeitsvertrag sah weder Urlaub vor noch Krankengeld. Zaghaft wies ich den Geschäftsführer darauf hin, dass ich noch die eine oder andere Änderung vorzuschlagen hätte. Er lehnte sich zurück und sah mich süffisant über den Rand seiner Brille an: „Das geht leider nicht. Das sind Standardverträge. Die können wir nicht einfach aufbohren.“ Verdammt. Sollte ich nun unterschreiben oder nicht?

Ich dachte an die Zeit kurz vor dem Abitur, das goldene Zeitalter meiner Unterschrift. Gerade volljährig geworden, durfte ich meine Krankmeldungen und Verweise jetzt selbst signieren. Das war eine Lust! Und alles völlig legal. Na ja, fast. Die Schulleitung war, nachdem ihr kein anderes Mittel zur Maßregelung verblieben war, darauf verfallen, an der Bürotür des stellvertretenden Direktors eine Hitliste der Schüler mit den meisten Fehlstunden auszuhängen. Die Top drei wurden wöchentlich zu klärenden Gesprächen einbestellt. Ich war immer dabei. Eines Tages wurde es dem Stellvertreter zu bunt. Er warf mir vor, kaltschnäuzig die Schulordnung zu brechen. Ich sei doch gar nicht krank gewesen. Oder wie anders könne ich es erklären, dass ich regelmäßig dem Religionsunterricht fernblieb, in den Stunden davor und danach aber anwesend war? Er werde mir jetzt einen verschärften Verweis erteilen müssen, so leid es ihm tue. „Schön“, sagte ich gut gelaunt. „Vielleicht können Sie ihn gleich ausstellen, dann unterschreibe ich ihn sofort und wir haben beide noch etwas von der Pause.“ Eine Woche später waren Abiturprüfungen. Seine Macht war gebrochen.

Wenige Wochen später: die erste Unterschriftsernüchterung. An der Tür klingelte es, ein Rollstuhlfahrer. Ob ich ihn denn nicht kenne? Den Rollstuhl-Manni. Ihn kenne hier doch jeder. Er wohne nur zwei Straßen weiter. Wir kamen ins Gespräch. Er kam zu meiner Unterschrift, ich kam zu einem Abonnement der Zeitschrift Gong, ein ganzes Jahr lang, und weil ich die Postkarte mit der Kündigung nicht rechtzeitig abschickte, noch ein weiteres Jahr. Da wusste ich längst, dass Rollstuhl-Manni mich kaltschnäuzig gelinkt hatte. Eine Woche nach seinem Besuch war er drei Landkreise weiter bei einem Bekannten an der Tür gestanden. Man kenne ihn doch hier in der Gegend. Er wohne nur zwei Straßen weiter … Ich beschloss, dem Rollstuhl-Manni einen besonnenen Brief zu schreiben, fand aber seine Adresse nicht heraus.

Der Geschäftsführer wartete noch immer auf meine Unterschrift. „Sie müssen sich schon überlegen, ob Sie für uns arbeiten wollen oder nicht.“ Schön, aber zu diesen Bedingungen? Ich überlegte, entschied mich dagegen und suchte mir lieber eine Anstellung bei der kleinen, aber feinen Zeitung, die Sie gerade in den Händen halten.

Seither unterschreibe ich gar nichts mehr. Das ist gar nicht so einfach, wenn man bei der taz arbeitet. Alle zwei Tage mindestens zieht ein korpulenter Mensch durch die Flure und macht an jedem Schreibtisch Halt, besonders gerne, so scheint es mir, an meinem. Meist hat er eine Sammelbüchse dabei, oft auch einen Klemmblock, auf dem ist eine Unterschriftenliste befestigt. Er sammelt Geld und Unterschriften. Für den Erhalt des Berliner Polizeiorchesters. Gegen die Abschaffung der Reiterstaffel. Für die Weiterbeschäftigung eines Stasiverdächtigen Schlagermoderators. Für die Verlegung der 1.-Mai-Demo. Und wehe, die tazler leisten ihre Unterschrift nicht! Dann setzt es Gebrüll und Terror. Aber ich muss hart bleiben und kantig. Am Ende übernimmt sonst irgendwann an einem 1. Mai das berittende Polizeiorchester unter der Leitung von Ingo Dubinski die Macht im Lande, putscht Rollstuhl-Manni an die Spitze, und die Kinder und Enkel fragen mit anklagendem Blick: „Was hast du damals dagegen getan?“ Ich habe nicht unterschrieben, will ich dann sagen können.

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