Eine Welt ohne Krieg

Politikvorschläge in der pazifistischen Tradition werden für nicht mehr plausibel gehalten: Favorisiert wird stattdessen die Theorie des gerechten Krieges. Eine Kritik

von MICHAEL WACHHOLZ

Prinzipielle Kriegsgegner haben einen schweren Stand. Mit der Militäroperation in Afghanistan erleben sie nach dem Golfkrieg und der Bombardierung Jugoslawiens gegenwärtig den dritten von den USA und ihren westlichen Verbündeten geführten Krieg, der von einer breiten Öffentlichkeit der beteiligten Länder befürwortet wird.

Hierzulande sind zwei dieser militärischen Einsätze sogar von den Grünen mit in Auftrag gegeben worden – also von einer Partei, deren pazifistische Strömung, einst autoritativ und in der Mehrheit, nur noch eine Minderheit ausmacht. Nun sind Pazifisten stets minoritär geblieben, doch in der Ära des Kalten Kriegs galt eine strikte Antikriegshaltung immerhin als eine Position, der angesichts der Gefahr eines Atomkriegs eine gewisse Plausibilität nicht abgesprochen wurde. Seit den Neunzigerjahren dagegen scheint ein radikaler Pazifismus, der prinzipiell jeden Krieg für illegitim hält, mehr denn je überholt und weltfremd zu sein.

Mit der Entschärfung nuklearer Bedrohungen, auch wenn sie nur scheinbar ist, sind die Rechtfertigungsprobleme einer pazifistischen Haltung im Fall von Eroberungskrieg und Völkermord wieder in den Vordergrund gerückt. Zugleich ist eine auffällige Konjunktur der Theorie des gerechten Krieges zu beobachten, die in Deutschland spätestens seit der Jugoslawienkrise vielen Menschen als passende Begründungsidee für derartige Situationen erscheint.

In allerjüngster Zeit hat die Debatte neue Nahrung durch einen Aufruf sechzig amerikanischer Intellektuellen erhalten, die in ihrem „Brief aus Amerika“ die Militäroperationen gegen islamistische Terrornetzwerke als eindeutigen Fall eines gerechten Krieges rechtfertigen und insofern die Politik der Bush-Administration klar unterstützen.

Die Theorie des gerechten Krieges geht von Fällen aus, in denen die legitime Selbstverteidigung eines Staates oder das Verhindern eines Völkermordes den Einsatz militärischer Mittel erforderlich macht. Ihr Ziel ist daher, Bedingungen zu benennen, unter denen ein Krieg moralisch zu rechtfertigen ist.

Für den amerikanischen Sozialphilosophen und ehemaligen Vietnamkriegsgegner Michael Walzer, der zu den prominentesten Mitunterzeichnern dieser Schrift zählt, bietet die Unterscheidung zwischen gerechten und ungerechten Kriegen zwei Vorzüge. Zum einen stellt sie einen wirksamen argumentativen Hebel zur Begrenzung militärischer Brutalität dar, und zum anderen lässt sich mit ihr eine politisch verantwortliche Haltung begründen, die im Gegensatz zum radikalen Pazifismus anerkennt, dass bewaffnetes Eingreifen eben manchmal unumgänglich ist und dass man bereit sein muss, sich die Hände schmutzig zu machen.

Der „Triumph der just war theory“, wie Walzer sich bei einem Vortrag in Berlin ausdrückte, wird für ihn darin am deutlichsten sichtbar, dass kein westlicher Militär heutzutage ohne die moralischen Kategorien der Theorie des gerechten Krieges auskomme. Befindet sich also der Pazifismus mit seinen unpraktikablen Forderungen zu Recht in der Defensive? Hat der gerechte Krieg den Pazifismus als Alternative für den Umgang mit konkreten Konfliktsituationen wie den „ethnischen Säuberungen“ in Jugoslawien oder der Bekämpfung terroristischer Netzwerke in Afghanistan dauerhaft diskreditiert?

Um diese Frage zu beantworten, gilt es, einen kurzen Blick auf die Voraussetzungen des gerechten Krieges zu werfen. In Anlehnung an die klassischen Texte von Augustinus und Thomas von Aquin benennt der Philosoph Reinhold Schmücker sieben Kriterien, die alle erfüllt sein müssen: Ein Krieg ist danach gerecht, wenn er auf der Entscheidung einer legitimen Autorität beruht, wenn ein berechtigter Grund vorliegt und eine moralisch gute Absicht verfolgt wird; ferner dann, wenn die Kriegführung moralisch legitim ist, der Krieg zum Erreichen des erstrebten Guten ein taugliches Mittel sowie die allerletzte Alternative darstellt und wenn die verursachten Übel in einem angemessenen Verhältnis zu dem mit dem Krieg intendierten Guten stehen.

Es ist vor allem die letzte dieser sieben Bedingungen, deren Erfüllbarkeit äußerst problematisch ist und mit der entsprechend die Überzeugungskraft dieser Theorie steht und fällt. Zum Verständnis des Krieges gehört, dass zur Durchsetzung auch der „guten“ Ziele die Tötung Unschuldiger in Kauf genommen wird. Damit ergibt sich ein grundsätzliches und eklatantes Legitimationsproblem. Auch wenn Gerechtigkeit keinesfalls per se mit dem Guten gleichzusetzen ist: Verbietet es sich nicht dennoch, von Gerechtigkeit zu sprechen, wenn Bestrafung, Selbstverteidigung oder Nothilfe bewusst die Möglichkeit einschließen, dass jemand verletzt oder getötet wird?

Einen Menschen schlagen, ihn seiner Bewegungsfreiheit berauben oder gar töten ist eine an sich böse Handlung. Auch wenn es zu unser gesellschaftlichen Realität gehört, dass solche bösen Handlungen wohl unvermeidlich sind, so ändert dies nichts daran, dass wir dabei genau jene Wertvorstellungen verletzten, die wir sonst für unveräußerlich erachten. Erreicht der Begriff der Gerechtigkeit nicht seine absolute Grenze, wenn „gerecht sein“ gleichbedeutend wird mit der Verletzung der Heiligkeit menschlichen Lebens?

Ist nicht der Glaube an die Heiligkeit des Lebens einer der entscheidenden Gründe, weshalb das Schlagen von Kindern verpönt ist, die Folter verboten wurde, warum selbst Schwerverbrecher auf Bewährung entlassen werden können und weshalb in den meisten westlichen Ländern die Todesstrafe abgeschafft und die Kriegsdienstverweigerung erlaubt wurde?

Doch selbst wenn wir den Glauben an die Heiligkeit des Lebens beiseite lassen und uns darüber hinwegtäuschen, dass dieses Prinzip eine der für das Zusammenleben fruchtbarsten „Erfindungen“ der Menschheitsgeschichte ist, so bleibt noch ein zweiter, gewichtigerer Einwand gegen den gerechten Krieg. Wie lässt sich von der Wahrung der Verhältnismäßigkeit der Mittel sprechen, wenn man zur Erreichung des „guten“ Zieles Unschuldige tötet?

Die Militäroperation gegen Al-Qaida-Kämpfer und Talibantruppen hat auch nach konservativen Schätzungen bereits mehr zivile Opfer in Afghanistan gefordert, als bei den Anschlägen in New York und Washington ums Leben kamen. Im November 2001 wurden bei vier hochpräzisen Bombenangriffen, die einem der meistgesuchten Talibanschergen galten, 43 Menschen getötet. Ist eine Intervention, die so vorgeht, immer noch ein gerechter Krieg? Bei wie vielen Toten wird die Grenze von gerecht zu ungerecht überschritten?

Auf diese Fragen hat die Theorie des gerechten Krieges keine Antwort, weil sie die Bedingung der Verhältnismäßigkeit der Mittel nicht an dem Recht auf Leben und Unversehrtheit jedes einzelnen von den Kampfhandlungen betroffenen Menschen misst. Sie besteht letztlich darauf, dass die moralischen Voraussetzungen der Handlungen des Staates nicht mit den moralischen Geboten, die die Rechte einzelner Privatpersonen betreffen, vermischt werden dürfen. Das sich daraus ergebende Dilemma wird von der Theorie des gerechten Krieges unterschlagen.

Es ist kein Zufall, dass auch für viele Nichtpazifisten die Idee eines gerechten Krieges ihrer moralischen Intuition widerspricht. Darüber hinaus ist die just war theory beständig in Gefahr, zur argumentativen Stütze derer zu werden, die Gewalt als Mittel der Interessendurchsetzung und Konfliktlösung bewahren wollen und den Traum von einer Welt ohne Krieg längst verabschiedet oder ohnehin nie geträumt haben. Indem sie die Grenze der Gerechtigkeit oberhalb der Menschenrechte des Einzelnen ansetzen, erlauben die Theoretiker des gerechten Krieges den Generälen und Politikern, frei festzulegen, wann diese erreicht ist.

Anstelle der kompromittierten Idee eines gerechten Krieges schlage ich das Programm eines bedingten Pazifismus vor. Damit wird eine Position beschrieben, die die Schwächen des radikalen Pazifismus auszubügeln sucht, ohne jedoch dessen Ziel, Weltfrieden zu erreichen, aufzugeben. Von einer Welt ohne Krieg zu träumen darf nicht heißen, die Augen davor zu verschließen, dass kollektive physische Gewalt, wie sie auf absehbare Zeit zum Leben auf der Erde dazugehören wird, sich oftmals nicht ohne den Gebrauch von Gegengewalt einschränken oder verhindern lässt. Gerade weil dies so ist, bestreitet niemand die Notwendigkeit von Institutionen, die den Ausbruch von Gewalt verhindern oder unterbinden und Angreifer bestrafen.

Entscheidend ist jedoch, dass diese Institutionen der Gewalteindämmung und -verhinderung ihrerseits verbindlichen Regeln und einer unabhängigen Kontrolle unterstellt werden. Alle Formen der Selbstjustiz durch einzelne Staaten müssen mit einem Bann belegt werden; der Schutz unschuldiger Dritter muss als oberstes Gebot gelten. Darin besteht, wie Andreas Zielcke in der Süddeutschen Zeitung schrieb, „der tiefere ethische Unterschied zwischen polizeilicher und militärischer Rationalität“. Ein konditionaler Pazifismus lässt sich definieren als die Ablehnung jeglicher Gewalt (gegen eine Gruppe von Menschen oder ein Land), die nicht einer polizeilichen Rationalität folgt.

Wenn man den Krieg ablehnt, jedoch nicht ausschließt, dass Gewaltanwendung gegen die Soldaten oder Kämpfer eines Aggressors in bestimmten Fällen zur moralischen Pflicht wird, reduziert sich damit nicht die Debatte auf ein Wortspiel? Muss eine Polizeiaktion gegen eine mordende Miliz oder die Armee eines Aggressorstaates nicht unwillkürlich zum Krieg werden, weil es bei der Zahl der Kämpfer und der Art der Waffen eben um ganz andere Dimensionen geht?

Tatsächlich gibt es Überschneidungen zwischen einem bedingten Pazifismus und der Theorie eines gerechten Krieges. Auch Letztere beabsichtigt ja, zu einer Minderung der Schrecken des Krieges beizutragen. Der Idealismus der pazifistischen Haltung hat jedoch das größere moralische Gewicht. Nur gemeinsame moralische Überzeugungen und der davon ausgehende „innere“ Druck werden die Führer souveräner Staaten dazu bringen können, verbindliche Verträge zu unterschreiben, die zur Umstellung des militärischen Apparats auf eine polizeiliche Rationalität verpflichten.

Wie könnten konkrete Forderungen an Staaten aussehen, die sich gezwungen sehen, kriegerische Gewalt mit Gegengewalt zu stoppen oder einzudämmen? Zu den wichtigsten Vorschlägen, die in der Friedensforschung seit langem diskutiert werden, gehört die Einrichtung einer unabhängigen Kontrollinstitution, die, unterstützt von Vor-Ort-Beobachtern, über die Angemessenheit der Angriffe entscheidet. Eine solche Einrichtung könnte auch dazu beitragen, dass die Presse in der Lage ist, die Öffentlichkeit über Art und Menge der verwendeten Waffen sowie über die angerichteten Schäden so aufzuklären, dass diese sich ein Bild vom wahren Ausmaß der Operation machen kann.

Ferner wird gefordert, Bombardierungen und Artilleriebeschuss auf ein Minimum zu reduzieren sowie Massenvernichtungswaffen, Streubomben und Landminen generell zu ächten. Zumindest nachdenken sollte man darüber, ob nicht die Entschädigung von zivilen Opfern und deren Hinterbliebenen angemessen wäre.

Die Schaffung von Institutionen auf globaler Ebene, die in Bezug auf „große“ bewaffnete Konflikte über ein Kontrollrecht oder gar ein Gewaltmonopol verfügen, liegt sicherlich in weiter Ferne. Immerhin ein erster Schritt in diese Richtung wären eine Stärkung der Vereinten Nationen sowie die konsequentere Anwendung und Weiterentwicklung des Völkerrechts. Darüber hinaus bedeutet ein Hinarbeiten auf die Ausrottung des Krieges jedoch nicht nur das Unterbinden militärischer Gewalt, die durch keine Institution beschränkt und kontrolliert wird, wie dies gegenwärtig im amerikanischen war against terrorism wieder einmal der Fall ist.

Das Ziel eines Weltfriedens erfordert vor allem auch präventive Maßnahmen gegen kriegerische Handlungen. Dazu gehören Frühwarneinrichtungen für sich abzeichnende Völkermorde oder Kriege ebenso wie die strenge Kontrolle und gezielte Beschränkung bei der Produktion von Waffen und deren Verkauf. Solche Vorschläge und Forderungen mögen utopisch erscheinen, doch wäre bereits viel gewonnen, wenn man sie statt der Frage nach der Gerechtigkeit eines Krieges in den Mittelpunkt der politischen Debatte stellen würde.

MICHAEL WACHHOLZ, Jahrgang 1963, schreibt am John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien an der FU Berlin gerade seine Doktorarbeit zum Thema „Entgrenzung der Geschichte: Eine Untersuchung zum historischen Denken der amerikanischen Postmoderne“