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Im Fach Lesen eine Fünf

Elfriede Bornholdt beschreibt in ihren Lebenserinnerungen „Nur ein Mädchen“ ihre Kindheit zwischen 1937 und 1955. Heute abend liest die Schauspielerin Lena Fahje im Museum der Arbeit daraus

von HELENE BUBROWSKI

Die unterernährte, bettnässende Elfriede kann sich nicht wehren. Seit ihrem zwölften Lebensjahr wird sie vom eigenen Vater täglich sexuell missbraucht. „Wenn du einmal schwanger bist“, sagt er bei einem nächtlichen Besuch, „da freu‘ ich mich schon drauf. Dann kann ich endlich mal ohne aufzupassen.“

Elfriede Klemm wird 1937 als erstes Kind einer Arbeiterfamilie in Hamburg-Bahrenfeld geboren. Der Krieg prägt ihre frühen Kindheitserinnerungen: Bombenangriffe, Luftschutzkeller und ein hungriger Magen. Sie sieht, wie 1945 der Nachbarssohn versteckt wird, um nicht an die Front gehen zu müssen. Auch im persönlichen Umfeld wird sie nicht von Schicksalsschlägen verschont: Ihre Schwester Renate stirbt als Kleinkind an einer Tuberkulose. Bedrückend ist vor allem die Atmosphäre im Hause Klemm, die Mutter behandelt ihre Kinder mit großer emotionaler Kälte. Obwohl Elfriede allein für den Haushalt verantwortlich ist und ihre drei Geschwister betreut, wird sie zu Hause gedemütigt.

Der Ausspruch des Vaters anlässlich ihrer Geburt, das Kind sei eben „nur ein Mädchen“, verfolgt sie ihre ganze Kindheit hindurch, genauso wie die Schläge ihrer Mutter. „Ein Esser weniger am Tisch“ ist der Kommentar der Eltern, als sie anfängt, als Hausmädchen zu arbeiten, um ihre Mutter von der Schufterei in einer Fischfabrik zu erlösen.

Elfriede hält alles aus: die Erniedrigungen durch ihre Mitschüler und Lehrer auf Grund der schlechten Schulnoten; die immer wieder enttäuschten Hoffnungen bei Männerbekanntschaften; die totale finanzielle und emotionale Abhängigkeit. Sie ist keine Kämpferin, jedenfalls zunächst nicht.

Doch ganz langsam fängt sie an, sich zu emanzipieren. Ihre Freundin Margot ist wie sie Mitglied bei den Jungen Pionieren und eröffnet der inzwischen 15-Jährigen die Welt der Literatur: Elfriede, deren Note im Fach Lesen fast nie über eine Fünf hinauskam, stürzt sich auf Maxim Gorki und Alexej Fjordorow.

In der Altonaer FDJ lernt sie ihren späteren Mann Rolf Bornholdt kennen. Zu dem ein Jahr jüngeren, schüchternen Jungen, der anfangs nur Lückenbüßer war, entwickelt sie langsam Vertrauen – ein bisher ungekanntes Gefühl. Sie fasst den Entschluss, ihr Elternhaus zu verlassen und geht mit den Worten: „Etwas Schweres fällt von mir ab, fällt ab, ohne dass mir leicht wird.“

Unabhängig davon, ob der Leser die Zeit zwischen 1937 und 1955 miterlebt hat, wird er bei der Lektüre in einen Alltag der 40er und 50er Jahre versetzt. Es scheint, „als stünde nicht ein Leben zwischen dem Erlebten und dem Aufschreiben, sondern als sei das alles am heutigen Tag oder erst gestern gewesen“, so Bornholdts Freundin Christine Maiwald vom Museum für Kunst und Gewerbe. Es ist erstaunlich, dass ihre Erinnerung an die Ereignisse über die Jahre nichts an Klarheit eingebüßt zu haben scheinen. Die betont unmittelbare Schilderung von 60 Jahre alten Gefühlen freilich wirft die Frage auf, wie authentisch diese sein können. Der Vorwurf der Ausblendung historischer Fakten kann Elfriede Bornholdt kaum gemacht werden, denn ihre persönlichen Lebenserinnerungen sind und wollen keine geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung sein.

Heute liest die Schauspielerin Lena Fahje im Museum der Arbeit Passagen aus dem autobiographischen Bericht. Die Autorin kann aus gesundheitlichen Gründen leider nicht anwesend sein.

heute, 19 Uhr, Museum der Arbeit. Elfriede Bornholdt, Nur ein Mädchen, Selbstverlag, 116 Seiten, 19,80 Euro; im Museumsshop erhältlich

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