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Fragen für die Unendlichkeit

Christina Lissmann stellt im Museum für Kunst und Gewerbe ihr neuestes Werk vor: „Brave New World“, ein innerlich und äußerlich anzuwendender Spiegelkubus als Hommage an Aldous Huxley

von CHRISTIAN T. SCHÖN

Schönheit blinzelt sich im Spiegel an. Wahrheit offenbart das Spieglein an der Wand. Als Zeichen der Jungfräulichkeit, der Selbsterkenntnis und Weisheit gilt er in vielen Religionen. Ob zur optischen Raumvergrößerung in Supermärkten, als Endo- oder Teleskop – die hauchdünn mit Quecksilber beschichtete Glasplatte ermöglicht Irritationen der Pupille und Blicke in Zukunft und Vergangenheit, Körper und Universum des Menschen.

Diese und andere Reflexions-Ideen hat Christina Lissmann zu einer kurzen Kulturgeschichte des Spiegels zusammengetragen, die ab morgen im Museum für Kunst und Gewerbe zu sehen ist, einflossen. Bisher war die 37-Jährige vor allem als Videokünstlerin aufgefallen. Nach monitor mirror space ist brave new world ihre zweite Arbeit, bei der sie Spiegel verwendet und in der sie – in Polke-Tradition – erstmals mehrere Bedeutungslagen übereinander lädt.

Die Zahlenmystik, auf der die minimalistischen, komplett verspiegelten Grundformen des begehbaren Kubus‘ basieren, erklärt Lissmann wie folgt: Die vier Meter Seitenlänge, die der quadratische Grundriss misst, stünden für die Gesamtheit der Welt. Der Oktogon-Innenraum symbolisiere die Unendlichkeit, die liegende Acht die Infinität. Die Außenhaut des Kubus also als Widerspiegelung des Museumsbesuchers, kurz: der sichtbaren Wirklichkeit. Im Inneren findet sich eine abgedunkelte, von Bildschirmen stimmungsvoll beflackerte Kammer. Strahlenförmig verschwindet der Besucher zugleich in den unendlichen Wiederholungen seiner selbst.

Elf Köpfe – mythische Stiere, weise Priester, Piloten, Astronauten, Bauersfrauen – blicken einen an. Während einige schweigen, reden die anderen und stellen Fragen. Beschwörend, zickig, neugierig oder gedämpft. Selten nervend oder fordernd. Niemals beunruhigend. „Sind Sie alleine hier?“, „Essen Sie gerne Fleisch?“, „Wissen Sie, welche Schuhgröße ich habe?“ – Fragen, die sich die SchauspielerInnen selbst überlegt haben.

Doch genau hier liegt auch das Problematische an diesem so beliebten Thema in der Kunst: Die notwendige Erschütterung, um den Betrachter zu (neuer) Selbsterkenntnis anzuregen, bleibt aus. Unberührt lassen ihn die ins Unendliche gespiegelten Fragen zurück, auch so spannende wie „Glauben Sie, dass die Demokratie ein Experiment ist?“ oder „Können Sie noch mal von vorne anfangen?“ Also keine Endoskopie des Innern, nur eine wirklich brave neue Welt?

Wenn Christina Lissmann in diesem Zusammenhang von „Selbstreferenzialität“, „Ich-Erhöhung durch Nachbildung“ oder „Selbst-Werbung und Erkenntnis des Selbst“ spricht, dann klingt das nach der promovierten Philosophin Lissmann. Beredt hält sie sich mit Interpretationshilfen zurück und überlässt dies der Kunsthistorikerin Anne-Marie Melster, die heute Abend die Eröffnungsrede hält, in der sie unter anderem mit Walter Benjamin auf den „Verfall der Aura durch Technologisierung“ eingeht. Die Anlehung an Aldous Huxleys Roman Schöne neue Welt will die Künstlerin abstrakt, aber doch als „Hommage“ verstanden wissen. Huxley beschrieb vor 70 Jahren ein Utopia, in dem der Fortbestand der Menschheit durch das legendäre „Bokanowskyverfahren“, eine gentechnische Reproduktion sozialer Kasten, gewährt wird und in der jede Neugier und Lust aufs Fragen abgetötet wird. Da ist es gut zu wissen, dass doch die eine oder andere Frage den Betrachter erreicht und dass auch die unendliche Wiederholung in den Spiegeln nicht Huxleys utopisches Versprechen einlöst, das da lautet: „62.000 Wiederholungen ergeben eine Wahrheit.“

Christina Lissmann: Brave New World. Eröffnung heute, 18 Uhr; Museum für Kunst und Gewerbe; Di–So 10–18 Uhr, Do bis 21 Uhr; bis 8. September

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