berliner szenen Literatur und Leben

Mitten in Berlin

Er gehört zu den liebsten Formeln und Floskeln in der Literaturkritik: der Wunsch, Literatur möge wie das Leben selbst sein, der Wunsch nach gegenwärtigster Gegenwärtigkeit von Büchern. Manchmal aber schaut schon Leben aus Büchern heraus, ohne dass sie gelesen werden, entpuppen sich Bücher und ihre Titel als sich selbst erfüllende Prophezeiungen, nur weil sie transportiert werden. So ergab es sich, dass neulich der Kollege B. einen brandneuen, erst im Oktober erscheinenden Berlin-Roman mit nach Hause nahm, „Mittendrin“ von Martin Schacht.

Wie spätestens seit Martin Walsers „Tod eines Kritikers“ mehr als bekannt, bekommen selbige Kritiker brandneue Bücher vorab gern als so genannte Fahnen zugeschickt, mitunter schwer zu lesende, oft zentnerschwere, in der Regel lose Blattsammlungen. Diese Blattsammlung von „Mittendrin“ klemmte sich B. hinten auf seinen Fahradsattel und fuhr damit durch Mitte. In der Markgrafenstraße jedoch machte sich Martin Schachts „Mittendrin“ selbstständig und fiel zu Boden. Lagen die Blätter erst noch feinsäuberlich und aufgespannt wie ein Fächer auf der Straße, besorgte ein Windstoß den Rest und beförderte sie kreuz und quer über den Gendarmenmarkt. Mitten in Berlin. Das war’s wohl mit „Mittendrin“, dachte sich B, immerhin hatte das Buch ja auch so seine Bestimmung gefunden. Dagegen hatten aber zahllose freundliche Passanten und Touristen etwas. Sie sammelten die Blätter wieder ein und reichten sie B. andächtig und auch ehrfürchtig zurück. Ein Schriftsteller vielleicht, dieser Mann! Der Kritiker B. meinte ein paar Tage später, er habe lange nicht mehr einen so guten und lebensnahen Berlin-Roman wie „Mittendrin“ gelesen.

GERRIT BARTELS