Das Gefängnis der Charaktere

Für zwei Millionen Euro ist die ARD-Serie „Marienhof“ in eine neue, sehr moderne Kulissenstadt bei München umgezogen. Es soll sich lohnen, denn in einer Seifenoper spricht der Hintergrund oft eine deutlichere Sprache als die armseligen Darsteller

von TOBIAS MOORSTEDT

Marlon hat ein Zimmer. Ein sehr schönes Zimmer. Es ist blau. Von der Wand schwappt eine aufgemalte Welle. Neben der Amerikaflagge, den Lagerfeuerfotos und den vielen Wellenreiterpostern hängt ein Surfbrett. Komplett mit Segel. Auch ein Modellboot ist da. Alles passt. Will man Marlons Zimmer verlassen, muss man nicht die Tür benutzen: Es hat nur drei Wände. Und keine Decke. Es ist nicht echt. Es ist Teil der Kulisse der ARD-Vorabendserie Marienhof.

In einer Seifenoper, das merkt man schnell, ist die Kulisse mehr als bloßer Hintergrund, vielleicht ist sie sogar genau so wichtig wie die Schauspieler. Simon P. Wagner zum Beispiel. Der 18-jährige Berliner spielt in der Serie den Marlon. Doch Simon spielt die Rolle nicht allein. Erst zusammen mit dem blauen Zimmer wird er zum zielgruppengerechten Surfertypen, oder besser: zum aktuellen Mädchenschwarm der Soap.

„Die Kulisse hat einen großen Anteil am Gesamtausdruck der Serie“, sagt der Marienhof-Fernseharchitekt Johann Feldmaier. Die Kulisse bestimmt, ob sich der Zuschauer im flimmernden Fernsehbild zu Hause fühlen kann. Das ist wichtig. Feldmaier sagt deshalb: „Wir müssen immer aufpassen, nicht zu alt zu werden.“

Zum zehnjährigen Sendejubiläum der Seifenoper waren deshalb größere Umbaumaßnahmen nicht zu vermeiden. Denn der alte Marienhof war eine künstliche Arbeitersiedlung. Mit Gärtnerei und Sparkasse. Mit grauen Mauern und kleinen Fenstern. Der Himmel hing tief über dem fiktiven Stadtviertel, irgendwo in Köln. Die Kulissen zeigte Bilder aus einem anderen Land. Aus einem alten und – noch schlimmer – wenig zielgruppenkompatiblem Land. Nicht die Erosion durch Wind und Wetter machte die Bavaria-Kulisse langsam zu einem unbrauchbaren Relikt – sondern die geänderte Wahrnehmung der gesellschaftlichen Realität in der Bundesrepublik.

Johann Feldmaier hat deshalb in den letzten zwei Jahren eine zwei Millionen Euro teure Stadt aufgebaut. Mit großen Schaufenstern, mit Wänden in Blau und Gelb. Statt eines Tattooshops gibt es jetzt einen Wellnessladen. Dazu noch ein Straßencafé, ganz so wie in Italien, eine Disco, Boutiquen, ein Computershop. Die ganzen Dinge, die ein 14- bis 29-Jähriger halt braucht, um sich seines modernen Lebensgefühls zu vergewissern. Die Koordinaten einer Jugend. Das moderne Deutschland, wie es ist, oder besser: wie es sich gerne hätte. So modern vielleicht auch nicht.

Gegenüber vom Café hängt ein Schild: Fahrrad Anlehnen Verboten. Man kann es sich aussuchen. Ein bisschen. „Ich verstehe nicht viel von Architektur“, sagt Filmarchitekt Feldmaier, „aber ich verstehe was von Bildern. Die Komposition muss stimmen.“

Johann Feldmaier malt ein Bild. Die Farben dafür findet er in der Wirklichkeit. Oft streift er durch deutsche Städte, beobachtet, notiert sich dies oder das. Entwickelt eine fernsehkompatible Vorstellung der Realität. Feldmaier sagt: „Wir müssen eben immer einen Tick bunter sein als die Wirklichkeit.“ Dabei hat Feldmaier genauso viel Verantwortung wie der Mann, der das Drehbuch der Serie schreibt. Denn sein Bild sehen Millionen von Menschen jeden Abend. Sie fühlen sich wohl darin und holen sich einige Dinge aus der Fiktion in die Realität zurück.

„Oft rufen Leute an und fragen, wo man unsere Möbel kaufen kann“, erzählt Johann Feldmaier. Mit ihren Kulissen bestimmt die Seifenoper also auch den Geschmack ihrer Konsumenten. Ein Seifenoperzimmer erzählt immer auch eine Geschichte. Es erzählt das Leben seines Bewohners.

Wenn Feldmaier ein neues Zimmer baut, dann bekommt er von der Regie erst einmal ein Paar Mieterinformationen. Einen kurzen Lebenslauf. Alter, Familienverhältnis, Charakterzüge, ein paar Hobbys. Vielleicht auch die Schulnoten. Ganz bestimmt den Lohnzettel. Nach diesen Zahlen beginnt Feldmaier das Zimmer der Person zu malen. Er überlegt sich, welche Farben dieser Mensch wohl mag, ob er unordentlich ist, ob ein Holzregal zu ihm passen könnte oder doch lieber ein Chromtisch. Jedes Einrichtungsstück muss sprechen – und zwar sofort. Denn das Leben in der Seifenoper hat wenig Zeit.

Ein paar hundert Lebensauschnitte – das richtige T-Shirt, Schulstress, Geiselnahme – stehen da nebeneinander. In 22 Minuten. Da muss auch die Kulisse eine Hauptrolle spielen. Und muss den Ausdruck bringen, der den Schauspielergesichtern manchmal fehlt. So wird das Zimmer zum Klischee. Auf dem Küchentisch der Familie Maldini liegt ganz selbstverständlich die Gazetto dello Sport. Und an der Wand hängen schöne Fotos aus der alten Heimat. Bella Italia. Oje.

Es sieht ganz so aus, als habe Dino Maldini gerade den Raum verlassen. Auf dem Tisch steht noch eine Tasse. Vielleicht ist er gerade Brötchen holen. Am Kühlschrank klebt eine Notiz: Ein gewisser Carlos habe angerufen. Er bitte unter 1 46 53 um Rückruf. Vielleicht bringt die Mama aber auch nur gerade den Müll raus. Eigentlich wirkt es gar nicht so seltsam, wenn die Schauspielerin Shirli Volk dann erzählt, am wohlsten fühle sie sich im Wohnzimmer ihrer Fernsehfamilie. Dort kenne sie sich aus, sagt sie, dort habe alles seine Ordnung.

Johann Feldmaier kann das verstehen. Er kann sich sogar vorstellen, im Marienhof zu wohnen. Vielleicht im Eckhaus vom reichen Herrn Fechner, im 2. Stock, mit großen Fenstern. „Wir sind sehr nah dran am Leben“, sagt Feldmaier. Das sagt er sehr oft. Es ist ein Werbeslogan.

Denn natürlich geht es den Fernsehleuten nicht um die Realität, sondern um eine gewisse Interpretation derselben, die man seinen Zuschauern dann verkaufen kann. Es geht nicht wirklich um Lebensnähe, sondern um den Wiedererkennungswert der Serie und das Abgrenzen von den Konkurrenzprodukten. Denn die Katastrophenschicksale der unzähligen Seifenopern sind austauschbar. Die wahre Aussage steckt in der Kulisse. Sie bestimmt das Milieu. So spielt sich die hauseigene Konkurrenz „Verbotene Liebe“ hauptsächlich in großstädtischen Lofts und in Schlössern ab. „Marienhof“ ist nicht so. Auch nach dem Umbau nicht. Es ist bodenständiger, ein schmuckes Kleinbürgerbiotop.

Das Image ist die Mittelmäßigkeit. Es ist ein perfektes Marketingbild. Und letztendlich ist auch der aktuelle Mädchenschwarm Marlon nur ein Pinselstrich auf dem großen Gemälde. Simon P. Wagner weiß das, und fühlt sich in diesem strengen 4-Farben-Bild nicht immer ganz wohl. „Ich hatte so ein Zimmer als ich zwölf war“, sagt er, „Marlon sollte jetzt erwachsen werden.“ Er würde gerne einen härteren, dunkleren Charakter spielen. Aber das geht in diesem Zimmer nicht. Denn die Kulisse ist das Gefängnis seines Charakters.

Manchmal würde Simon gern ausbrechen. Doch die blauen Wände sind zu hoch. Es gelingen nur kleine Fluchten, und Simon klingt fast ein wenig stolz, wenn er davon erzählt. So hat er einmal, als ihm alles zu viel wurde, das bunte Modellboot unter das Bett gestellt.