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Unschärferelation

Das Fabrikat, die Kunst und die Wissenschaft: 150 Jahre Porträtfotografie im Deutschen Museum. Die Schau erinnert an ein Erbe von einer Million Dollar, das in eine neue Fotoabteilung fließen soll

von IRA MAZZONI

Fotokunst im Deutschen Museum, dem weltberühmten Technikmuseum, das ist außergewöhnlich, fügt sich aber in die Bemühungen der Institution den Dialog zwischen Kunst und Wissenschaft zu führen und zu fördern. Die Ausstellung „Das zweite Gesicht – Metamorphosen des fotografischen Porträts“ ist Erinnerung und Versprechen zugleich. Denn seit bald zehn Jahren gibt es in dem riesigen Haus auf der Isarinsel keine Foto- und Filmabteilung mehr. Schon 1993 schien die überbordende Apparatesammlung antiquiert. Doch um neue Konzepte zu realisieren, fehlten Geld und Personal. Andere Abteilungen bekamen den Vorzug, die Foto- und Filmabteilung musste warten. Immerhin konnten für die Sonderausstellung „Das zweite Gesicht“ die vorgesehenen Räume jetzt auf den technischen Stand gebracht werden.

Bis heute weiß niemand so recht, welche Fotografika-Schätze in den Depots lagern. Denn das Deutsche Museum hat nie Fotokunst gesammelt, sondern Belege für historische Aufnahme- und Entwicklungsverfahren. So verfügt das Haus mit mehr als 400 Daguerreotypien über eine der bedeutendsten Sammlungen der frühen Fotografiegeschichte. Aber es gibt kein Verzeichnis der Fotografen, noch wurden je die Motive systematisch erfasst. Es ging immer nur um Technik pur. Insofern stützt sich die derzeitige Sonderausstellung ausschließlich auf Leihgaben spezialisierter, internationaler Museen. Die geliehene Fotokunst wird – typisch Deutsches Museum – auf ihre chemisch-technische Bedingtheit untersucht. Mehr noch, die experimentell künstlerischen Fotografie und Filmpraktiken werden mit entsprechend wissenschaftlichen Experimenten in der Wahrnehmungsphysiologie, Psychologie und Kriminalistik konfrontiert. Wechselwirkungen nicht ausgeschlossen. Letztlich geht es um die Entsprechung von kultureller und technischer Form – oder um die Frage: Wie beeinflussen Wissenschaft und Technik unsere Wahrnehmung?

Die Ausstellung ist Erinnerung, Versprechen und Verpflichtung. In den neu gestalteten Ausstellungsräumen ist sie Versprechen auf eine neue Fotoabteilung, die nicht mehr nur Apparate zeigen wird – aus einer Verpflichtung heraus. Denn der ehemalige Vorsitzende des Verwaltungsrates des Deutschen Museums und Mitglied des Aufsichtsrates der Eastman Kodak Company, Karlheinz Kaske, hat das ihm im Todesfall von Kodak zugesprochene Legat von 1 Million Dollar dem Museum gestiftet mit der Auflage, den Einfluss der Technik auf die Kultur am Beispiel der Fotografie zu untersuchen und die Foto- und Filmabteilung wieder einzurichten. So verdankt sich die Ausstellung dem Vermächtnis des 1998 früh verstorbenen Vorsitzenden. Und Kodak achtet darauf, dass auch der Rest des Legats im Sinne Kaskes eingesetzt wird. Das Interesse der Firma an einer repräsentativen Foto- und Filmabteilung ist groß. Nur fehlen zur Realisation noch weitere Mittel. Trotzdem, die neue Abteilung ist in naher Zukunft in Aussicht gestellt, wenn das 100-jährige Jubiläum des Deutschen Museums vorbei ist, wenn das neue Haus für Verkehrstechnik eröffnet ist und wenn …

Die Ausstellung „Das zweite Gesicht“ besticht durch die Konzentration auf das Porträt und die Nähe historisch entfernter Positionen experimenteller Fotografie. Julia Margaret Cameron eröffnet die Galerie der unscharfen Bildnisse mit einem Porträt des Astronomen John W. Herschel 1869. „Was ist Schärfe – & wer hat das Recht festzulegen, welches die richtige Schärfe ist. – Mein Bestreben ist es, die Photographie zu veredeln und ihr den Charakter und die Wirkung einer hohen Kunst zu sichern“, äußerte die ambitionierte Amateurin, als ihr professionelle Kollegen Dilettantismus im Gebrauch der Optik vorwarfen. Unschärfe wurde so auch zum Kunstgriff „impressionistischer“ Fotografen, wie etwa Edward Steichen, oder der Schlüssel zur Abstraktion, wie die scheinbar monochromen Aluminium Bilder von Dunja Evers aus dem Jahr 1998 zeigen. Kaum war die Fotografie erfunden, kaum war der Beruf des Porträtfotografen etabliert, fingen Künstler an, ihre vermeintlich mechanischen Naturwiedergaben zu manipulieren.

So wie Stanisław Ignacy Witkiewicz seinem Porträt von Anna Oderfeld durch Langzeitbelichtung und damit Bewegungsunschärfen einen malerischen Touch gab, so produziert Gerd Bonfert 1992 Lichtbilder mit Bacon-Effekt. Die Ästhetik von Bildstörungen inspirierte Wolf Vostell bereits in den 70er-Jahren zu Medienkritik. Inzwischen hat Lynn Hershman eine komplexe Videoarbeit „Virtual Voices“ am Mischpult zusammengestellt: Sie zeigt die Koryphäen der Medientheorie in allen technisch machbaren Verzerrungen und Deformationen. Maschinen bilden nicht Wirklichkeit ab, sie produzieren ihre eigene Wirklichkeit. Wenn sich die Wissenschaft mit Unschärfe beschäftigt, dann, um herauszufiltern, unter welchen Bedingungen man andere Menschen erkennt oder wiedererkennt. Erstaunlicherweise ist scharfes Sehen dafür weniger relevant als eine bestimmte Helligkeitsverteilung.

Solarisationen, Tonwertreduktionen, Kontraststeigerungen: Die Fotografie entdeckte seit den 20 Jahren viele Mittel zur Abstraktion. Die Ausstellung spannt den Bogen von Man Ray bis zu den rot gefilterten Negativkontakten von Katharina Sieverding. Überblendungstechniken, wie sie Futuristen und Bauhaus-Fotografen zur Dynamisierung und Komplexitätssteigerung verwandten, wurden in der sozialdarwinistischen Forschung schon Ende des 19. Jahrhunderts benutzt, um typische Gesichtszüge von Kriminellen oder Geisteskranken zu identifizieren. Junge Fotokünstler reagieren auf diese Forschungsansätze: So überlagerte Nancy Burson 1982 die Porträts der Regierungschefs kriegführender Nationen zu ihrem Komposit-Porträt: Warheads. Und Gerhard Lang porträtierte im Achtjahresabstand, 1992 und 2000, die Bewohner eines Dorfes und montierte die 55 und 57 Einzelaufnahmen im Negativ zu je einem Gesamtbild. Die Differenz lädt zu wilden Spekulationen über die gewandelte Dorfbefindlichkeit ein. Was der Psychologie Werkzeug ist, wird bei der Kunst Aussage. So hat das Fotografenpaar LawickMüller Künstlerpaare gemorpht, um die physiognomischen Spuren geistiger und kreativer Verwandtschaft aufscheinen zu lassen.

Die Ausstellung schließt mit animierten Bildern. Besonders eindrucksvoll die Arbeit von Catherine Ikam & Louis Fléri, deren computergenerierte Schönheit aufmerksam den Museumsbesucher verfolgt, bis sich ihr Gesicht plötzlich in eine hohle Maske umstülpt. Das Abbild ist das, was es immer war: ein hohles Versprechen. Das Wissen um die alchimistischen Rezepturen und technischen Zurichtungen der Bilderzeugung freilich verändert kaum den Blick auf die Fotokunst. Die Ausstellungsidee entpuppt sich schnell als Vorwand, das Münchner Kunstpublikum auch in die Technikhallen zu locken.

Bis 11. August, Katalog (Prestel), 29,50 €

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