Tief verschleiert Händchen halten

„Nur Allah weiß, ob die Taliban gut waren. Aber wir wollen nicht mehr kämpfen.“

aus Kabul BERNARD IMHASLY

Der Verkehr in Kabul steckt fest – und das schon um 8 Uhr morgens. Die eigentlich klare Bergluft der afghanischen Hauptstadt hängt nur noch als Dunstschwaden über den Kreuzungen der Stadt. Sie trübt nicht nur die Sicht auf den bunten Verkehr, sondern auch die Erinnerung an die Zeit der Taliban, als der Verkehr von deren Landcruisern beherrscht wurde, die die wenigen Autos und Fahrräder an die Straßenränder scheuchten und die Verkehrspolizisten ihre kleinen Kellen hilflos senken ließen.

Inzwischen wagen sich die Polizisten in das Verkehrsgewühl, sie wissen sich zu helfen: In Shar-e Nau, der Neustadt, soll sich einer mit einem Schraubenzieher bewaffnet haben. Die Drohung, damit den Lack zu verkratzen, hält auch in Kabul jeden Verkehrssünder davon ab, sich davonzumachen. Granathülsen, die alle paar Meter mit der Öffnung nach unten in die Mittelstreifen eingegraben sind, verhindern Auffahrunfälle in den Kreisverkehren.

Doch der trübe Schein von abgasdefiniertem Wohlstand trügt. Die meisten Autos sind gelbe Taxen aller Provenienzen, die hier ihren Lebensabend verbringen und die Luft verpesten. Den Fahrern gelingt es, so viele Menschen in ihr Inneres zu stopfen wie in einen Bus – ein Zeichen dafür, dass es praktisch keine öffentlichen Verkehrsmittel gibt. Die meisten Autos haben kein Nummernschild. Zwar werden die Fahrer manchmal angehalten und zur Rede gestellt, doch gewöhnlich können sie sich herausreden. Besonders wenn ein Foto von Ahmed Schah Massud an der Windschutzscheibe klebt.

Das Bild des „Löwen von Panschir“ entschuldigt den fehlenden Fahrzeugausweis, es berechtigt zum freien Parken und gilt als Zugangspass für jedes Ministerium. Das Bild taucht überall auf: hinter Verwaltungspulten, an Restaurantwänden, als Filmposter „Massoud, l’Afghan“, als geknüpfter Teppich oder als Blickfang für einen Wandkalender. Der Kalender ist der einzige Ort, den sich der ermordete Kommandant mit dem Exkönig Zahir Schah teilen muss. Dessen glattes Konterfei in der straffen Armeeuniform scheint man aber nur gewählt zu haben, um das sorgenvoll zerfurchte Antlitz des Volkshelden aus dem Panschir besser hervorzuheben. Bilder des im Ausland modisch auftretenden Hamid Karsai würden dagegen keinen Polizisten erweichen.

Die Abziehbilder indischer Filmstars hätten da mehr Chancen. Sie sind nach sechs Jahren Taliban-Bann plötzlich wieder aufgetaucht, einem pakistanischen Drucker mit Unternehmergeist sei Dank. Überall in Kabul schießen Videobuden aus dem Boden, die indische Film- und Musikkassetten vermieten. Auch bei den Mietpreisen hat Kabul inzwischen das Niveau der Ersten Welt erreicht. Das gilt zwar nicht für die Quartiere im Süden und Westen der Stadt, die noch immer völlig ausgebombt wirken. Aber in Wasir Akbar Khan, in der Nähe des königlichen Stadtpalastes, sind viele Mieten schon auf 10.000 Dollar im Monat gestiegen – zahlbar für zwölf Monate im Voraus.

Schuld daran sind die vielen Medienvertreter, die sich in der Stadt aufhalten, vor allem aus der TV-Zunft. Auch die UNO, neben der wiederaufgebauten Regierung der größte Arbeitgeber, kann schon lange nicht mehr mithalten. Rebecca Richards, Communications Officer bei Unsma, der Sondermission der Vereinten Nationen für Afghanistan, muss ihr Zimmer mit drei Kolleginnen teilen.

Besonders problematisch sind diese Mietpreise für die Exilafghanen, die sich einige Monate als Freiwillige bei Hilfsorganisationen oder der UNO verpflichten möchten, um zu prüfen, ob sie den Sprung zurück in die Heimat wagen sollen. Rasool Amin, der Erziehungsminister, klagt, er habe 900 Gesuche von Freiwilligen abschlagen müssen, weil er sie nicht unterbringen könne. Er selbst lebt, wie viele seiner Kollegen, in einem Zimmer im „Kabul Intercontinental“.

Die Pressesprecher von UNO und anderen Organisationen sind begehrte Ansprechpartner in einer Stadt, die Öffentlichkeit kaum kennt. Fünf Jahre Medienkahlschlag durch die Taliban haben dafür gesorgt, dass auch wahre Begebenheiten oft als Gerücht abgetan werden. Kürzlich tauchte eine afghanische MiG-21, von denen es gar keine mehr geben soll, über dem Himmel von Kabul auf, landete auf dem Flughafen; der Pilot stieg aus und verschwand spurlos. Die meisten Kabuler erfuhren davon nichts, nicht einmal der diplomatische Berater von Präsident Karsai wusste Bescheid. In Kabul erscheinen im Moment nur maximal achtseitige Wochenzeitungen, deren Texte von internationalen Organisationen stammen. Die ein, zwei einheimischen Blätter tauchen im Straßenbild nicht auf.

Zwar haben Radio und Fernsehen wieder Frauenstimmen und -gesichter bekommen, doch was in die Wohnzimmer dringt, sind offizielle Verlautbarungen und ein paar Bilder von Karsai, der mal wieder einer von vielen ausländischen Delegationen die Hand schüttelt. Die Spuren, die die Taliban auch hier hinterlassen haben, sind weiterhin sichtbar. Mehrere Frauen, die sich kürzlich beim Verlassen des Fernsehstudios bereitwillig in ein Gespräch verwickeln ließen, wurden vom Türsteher so scharf angefaucht, dass sie mitten im Satz abbrachen, ihr Kopftuch vors Gesicht zogen und wortlos davongingen. Auch wartet man vergeblich auf eine Frau, die zum Beispiel ähnlich wie ihre männlichen Kollegen im Fernsehen ein Lied vortragen dürfte.

Auch die hellblauen Burkas prägen das Straßenbild weit mehr als noch vor einem Jahr. Ein Zeichen männlicher Engstirnigkeit? Damals, sagt die Afghanin Hassina Scherjan, wagten sich die Frauen nur im äußersten Notfall auf die Straße, wohl wissend, dass selbst das Klappern ihrer Schuhe den Zorn – und die sündige Fantasie – der Sittenwächter erregte. „Viele Frauen“, sagt die Vertreterin der NGO „Afghanistan Libre“, „fürchten den bohrenden Blick der jungen Männer, von Jahren des Blickentzugs hungrig gemacht.“ Und sie hat Recht: Ein Spaziergang mit der in schwarze Hosen und Jackett gekleideten Frau durch die Chicken Street setzt sie den prüfenden Blicken der ganzen Straße aus.

„Die Burka schützt auch: vor den bohrenden Blicken der jungen Männer“

Viele Frauen, so ein weiteres Argument für die Präsenz des Tschadors, seien so arm, dass sie sich schämten, mit geflickten Kleidern in die Öffentlichkeit zu treten. „Der Schleier bewahrt sie manchmal auch vor den Blicken anderer Frauen“, sagt auch Kulturminister Raheen. Eine flüchtige Szene scheint diesen Eindruck zu bestätigten: Ein Pärchen spaziert vor dem Herat-Restaurant vorbei, zwar Händchen haltend, die Frau aber ist tief verschleiert.

Zum Straßenbild der Chicken Street, der Gasse mit den Teppichhändlern und den Lapislazuli-Läden, gehören heute auch die Soldaten der Internationalen Sicherheitstruppe. In keiner Straße wird so dicht patrouilliert wie in dieser, nirgends werden die Läden so scharf inspiziert wie hier – immer auf der Suche nach den besten Preisen. Die Soldaten sind allesamt schwer bewaffnet, doch schießen tun sie nur mit ihren Kameras. In der schmalen Straße wirken sie mit ihrem Umfang grotesk, behängt mit Waffen, Helm, Walkie-Talkie, Wasserflasche, die vielen Taschen des Tarnanzugs mit Proviant und Regenhülle, Taschenlampe und Geschirr gefüllt. Aus dieser Materialorgie blicken meist junge Gesichter hervor, kaum dem Rekrutenalter entwachsen. Sie sind die Pioniertouristen dieser Stadt, und die pfiffigen Afghanen haben ihre Bedürfnisse schnell erkannt.

Schon werden auch hier die globalen Konsumprodukte angeboten, die bis vor kurzem unerreichbar schienen: Pepsi und Marlboro, Pantene und dänische Butter, Pringles Chips und Toblerone. Auch nagelneue Landcruiser sind inzwischen zu kaufen. Neben einem Betrag in Höhe des zwölfhundertfachen Durchschnittslohns eines afghanischen Beamten muss der Interessent nur noch eines vorweisen: eine Leumundserklärung, dass er nicht Mitglied von al-Qaida war und ist.

Deren Fußvolk war letzte Woche vor dem Sitz des Internationalen Roten Kreuzes zu besichtigen. 44 Taliban kauerten auf dem Gehsteig, ihre Turbantücher als einzigen Besitz zum Schutz vor der Kälte über die Schultern gezogen. Sie hofften auf ein wenig Fahrgeld von der humanitären Organisation, um zurück nach Hause zu kommen. Eine Woche zuvor waren sie bei der Neujahrsamnestie von Präsident Karsai aus dem Gefängnis von Schibergan im Norden entlassen worden.

Es war ein demoralisierter, ausgehungerter Haufen blutjunger Burschen, die sich seit Monaten nicht mehr gewaschen hatten. Sie erzählten meist dieselbe Geschichte: dass sie von den Taliban im letzten Oktober von ihren Feldern weg zwangsrekrutiert und nach Kundus transportiert worden seien, dass sie dort Waffen ausgehändigt bekommen hätten und so in die ersten Verteidigungslinien geschickt worden seien. Bei der Belagerung der Stadt seien sie gefangen genommen worden und zuerst in Containern, später in einem Verlies in Schibergan festgehalten worden. Dort seien viele von ihnen gestorben, nicht nur Afghanen, auch Pakistani, Tschetschenen und Araber. „Waren die Taliban böse?“ Auf die obligate Frage folgt die obligate Antwort: „Nur Allah weiß es. Wir wollen nicht mehr kämpfen.“