strafplanet erde: unbekanntes salzburg von DIETRICH ZUR NEDDEN
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„Aber das ist hier ein Raucherabteil.“ – „Ja, ich weiß.“ Etwa so lautet der knappe Einstiegs- oder Eröffnungsdialog zwischen dem Mann am Fenster, der allein in dem Abteil sitzt, und mir, der ich die Tür aufgeschoben und überflüssigerweise zwar, aber der Höflichkeit halber doch gefragt habe, ob ein Platz frei sei. Im Grunde sei er Gelegenheitsraucher, sagt der Mann noch, aber heute werde er mehr als üblich rauchen, da er in der vergangenen Nacht wenig geschlafen habe und wach bleiben müsse.

Danach starrt er eine Weile auf den heftigen Regen oder auf die Tropfen, die zitternd über das Fensterglas flitzen. Auf Ende fünfzig oder Anfang sechzig schätze ich sein Alter, das dichte Haar grau meliert. Ein weißer Trenchcoat hängt am Haken, eine Reisetasche steht auf dem Nachbarsitz. Jede Wette, er wird in Salzburg aussteigen: Ein Kritiker, der die Festspiele besucht, etwas lustlos, weil er schon acht oder dreizehn Mal die Festspiele besucht hat. Die Nacht durchgesoffen, jetzt müde und fahrig.

„Das Duett Giovannis mit dem Landmädchen Zerlina ist ätherisch feinste Verführung bis hin zum zarten Orgasmus: ein Ersticken“, würde er später vielleicht schreiben oder: „Das im Niemandsland zwischen Leben und Tod angesiedelte Andante nach der Ermordung des Komturs mit der sich gleichsam ausblutenden, tröpfelnden Triolenbewegung in den Violinen klingt nicht entrückt und ephemer genug.“

„Was ist das für ein See?“, fragt der Mann völlig unvermittelt, ja wie vor sich hin grübelnd, aber doch mit einem Hauch Ärger und Ungeduld in der Stimme. Ich tippe auf den Chiemsee, der hier irgendwo in der Gegend sein muss. Und sage: „Der Chiemsee?“ Danach wieder Schweigen.

Falls es jemanden interessiert: Von klassischer Musik verstehe ich nichts und vom Theater schon gar nicht, habe in Salzburg also nichts zu suchen, war dort als Kind einmal gewesen und hatte drei Mozartkugeln gekauft. Und: Punktgenau auf dem Salzburger Bahnhof hatte ich vor drei Jahren zufällig die Sonnenfinsternis beobachtet.

„So, jetzt ist es so weit. Ich rauche eine Zigarette.“ – „Nur zu“, entgegne ich. Anschließend zieht der Mann sich seinen Trenchcoat über. „Ist Ihnen kalt?“, frage ich. Nein, nein, sagt er, er werde gleich in Salzburg aussteigen. Als die Umgebung in Sicht kommt, deutet er auf einen Berg und nennt dessen Namen, vielleicht als Kompensation dafür, dass ich vorhin den See identifiziert habe. Abermals diktiert mir die Höflichkeit eine Frage: „Leben Sie in Salzburg?“ – „Nein“, sagt er, „bis gestern lebte meine Mutter hier.“

Der Zug fährt in den Bahnhof ein. Er steigt aus.

Zurück zu Hause finde ich selbstverständlich bei Thomas Bernhard einen Satz, der eine seiner wundervollen Hass- und Wuttiraden abschließt: „Die Stadt ist für den, der sie und ihre Bewohner kennt, ein auf der Oberfläche schöner, aber unter dieser Oberfläche tatsächlich fürchterlicher Friedhof der Phantasien und Wünsche.“

Wie gesagt, ich kenne Salzburg nicht.