Die Großmacht muss noch üben


Die Soldaten zeigen einen durch nichtszu erschütternden Gehorsam

aus Tianjin GEORG BLUME

Für manche ist es ein Wiedersehen mit Altbekanntem, nur die Soldaten sind nicht mehr dieselben. „Die Seilübungen für den Guerillakrieg in den Städten haben sie uns schon vor 29 Jahren gezeigt – übrigens an exakt demselben vierstöckigen Haus ohne Fenster“, erinnert sich Jimmy Florcruz, Chinareporter des US-Senders CNN. Anfang der Siebzigerjahre war Florcruz als Mitglied einer maoistischen Studentenvereinigung zum Studieren nach Peking gekommen. Als Gast der Kommunistischen Partei war er damals zu Manövervorführungen in Tianjin eingeladen. Heute steht er staunend am selben Ort. Denn obwohl das Land ringsherum boomt – bei der Armee hat sich nichts verändert.

Jimmy Florcruz und hundert weiteren Auslandskorrespondenten wird an diesem heißen Julitag in der Nähe der nordostchinesischen Hafenstadt Tianjin eine zweifelhafte Ehre zuteil: Sie sind seit den Achtzigerjahren die ersten westlichen Reporter, die Einheiten der chinesischen Volksbefreiungsarmee besuchen dürfen. Offizieller Anlass ist der 75. Jahrestag ihrer Gründung am 1. August. Vier Reisebusse des Pekinger Außenministeriums bringen die Journalisten zur 196. Infanteriebrigade und 24. Luftwaffendivision. Größeres Interesse ausländischer Medien fand Chinas Armee zuletzt nur bei der Niederschlagung der Studentenrevolte im Juni 1989.

Damals filmten westliche Kameras die Armeepanzer, als sie über den Platz des Himmlischen Friedens in Peking rollten und unter sich die Zelte der Aufständischen begruben. Hunderte, wenn nicht tausende starben in der Nacht des 4. Juni 1989. Die Welt aber beeindruckte vor allem eine Aufnahme nach dem Massaker, als sich ein einzelner Mann auf der Straße des Himmlischen Friedens einem Panzer in den Weg stellte.

In Tianjin geht es heute darum, dieses Bild vergessen zu machen. Die Soldaten geben ihr Bestes. Sie robben durch Sand und Gras, schießen auf grüne Blechscheiben und gelbe Gummiattrappen, schwingen sich wie Kunstturner von ihren Lastwagen, um die Raketenartillerie in Stellung zu bringen und lassen immer wieder ihren Schlachtruf ertönen: „Jiayou!“, wörtlich übersetzt „Gebt Öl!“

Jimmy Florcruz kennt das schon, er achtet auf Neues: „Die größeren Kanonen, die bis zum nächsten Hügel schießen, hatten sie 1973 noch nicht“, stellt er fest. Doch während der Fahrt an Gewächshäusern und Fischteichen entlang, mit denen die Truppe heute wie zu Maos Zeiten ihre Selbstversorgung sichert, wird deutlich: Für die ehemaligen Eliteeinheiten in Tianjin ist die Zeit stehen geblieben. Wenn sie überhaupt noch zu etwas dienen, dann zur Demonstration ihrer Harmlosigkeit. „Unsere Armee hat sich bislang nicht modernisieren können und stellt für kein anderes Land eine Bedrohung dar“, versichert Infanteriekommandant Hu Dongming. Und alles, was die Reporter zu sehen bekommen, scheint ihm Recht zu geben.

Das sieht das Pentagon in Washington naturgemäß ganz anders: Japan und die Philippinen seien „potenzielle Gegner“ Chinas; beides seien Länder, welche „die ehrgeizige Modernisierung der chinesische Armee“ vor „neue Herausforderungen“ stelle, warnt ein Mitte Juli veröffentlichter Chinabericht des US-Verteidigungsministeriums. Zum ersten Mal bezieht darin die Bush-Regierung ausführlich zur chinesischen Verteidigungspolitik Stellung. Was sie dabei an Wohlbekanntem neu beschreibt, klingt auf einmal richtig gefährlich: „Die Vorbereitung für einen potenziellen Konflikt in der Straße von Taiwan ist die Hauptantriebskraft für die ehrgeizige Modernisierung der chinesischen Armee“, erkennt das Pentagon. Erstmals unterstellt der Bericht China expressis verbis, den Konflikt um das seit 1949 vom Festland abgespaltene Taiwan nicht, wie von Peking immer behauptet, friedlich lösen zu wollen. Stattdessen plane China im Krisenfall „schnellstmöglich militärisch aktiv zu werden, um eine US-Intervention auszuschließen“.

Genau dieser Kalten-Kriegs-Rhetorik wollen die Kommandanten in Tianjin entgegentreten, indem sie immer wieder betonen, wie viel sie noch vom Ausland zu lernen hätten. Fragt Jimmy Florcruz, was China aus den Kriegen in Afghanistan und im Kosovo für Lehren ziehe, antwortet Kommandant Hu: „Dort haben wir die Natur der modernen Kriegsführung gesehen. Es gibt so viel davon zu lernen.“ Fragt ein anderer US-Reporter, was das chinesische Militär unternehme, um besser als die USA zu werden, antwortet Luftwaffenkommandant Wang Wei: „Wir üben.“ Das wirkt wie beim Besuch eines Schulrats in einer Grundschulklasse.

Die Frage lautet, wie viel davon gestellt ist. Leicht lässt sich vermuten, dass die Volksbefreiungsarmee nur die chinesischen Verhältnisse widerspiegelt. So ist sie mit ihren 2,4 Millionen Soldaten zwar die größte Armee der Welt, aber nicht aus der Masse kann sie Stärke ziehen, sondern nur aus einigen Sondereinheiten. Dem ganzen Land erging es so, als es erst in Sonderwirtschaftzonen prosperieren musste, bevor sich der Wohlstand allmählich ausbreitete.

Das Problem dabei liegt in der Natur der Sache: Die Sonderwirtschaftszonen konnten sich zur Welt öffnen, die Sondereinheiten aber bleiben versteckt. Ihre Mittelstreckenraketen, die kein Reporter sehen darf, werden laut Pentagon-Bericht von heute 300 bis 350 auf 600 im Jahr 2005 aufgestockt. Je weniger man aber von den Raketen weiß, desto leichter fällt es dem Pentagon, eine „chinesische Bedrohung“ herbeizureden und neuerdings auch die Philippinen und Japan für gefährdet zu erklären.

Hinzu kommen undurchsichtige Waffenlieferungen. Die Sondereinheiten haben mit den Sonderwirtschaftszonen gemein, dass aus eigener Kraft nichts läuft. Sie müssen ihr wichtigstes Kapital importieren. Beleg dafür sind die jüngsten Waffenlieferungsverträge der chinesischen Armee mit Russland im Wert von geschätzten 4 Milliarden US-Dollar über vier bis fünf Jahre. „China muss erst noch hervorragende eigene Flugzeuge produzieren. Bis dahin müssen wir importieren“, räumt Kommandant Wang ein. So ist die Volksrepublik nach Ansicht westlicher Experten seit 2000 zum größten Waffeneinkäufer der Welt aufgestiegen. Als besonders bedrohlich gilt der geplante Kauf von acht Unterseebooten in Russland, die China eines Tages helfen könnten, Taiwan zu blockieren.

Je weniger man von Raketen weiß, desto mehr reden die USA von „Bedrohung“

Doch je länger man sich in die Fachliteratur zum Thema einliest, desto mehr bestätigt sich der erste Eindruck in Tianjin: Es ändert sich nichts. Chinesen werden noch auf viele Jahre hinaus keines ihrer dann teuer gekauften U-Boote reparieren können. Ihnen fehlt die Satellitentechnik, mit denen die U-Boote für US-Schiffe erst gefährlich werden können. Am Ende könnten auch die U-Boot-Einheiten der chinesischen Armee genauso gut Gemüse pflanzen und Fische züchten wie ihre Kameraden in Tianjin. Für die alle Gewässer um China beherrschenden USA bilden sie keine Gefahr.

US-Außenminister Colin Powell hat das übrigens erkannt: „Die Modernisierung der chinesischen Armee ist an sich nicht beängstigend, solange klar ist, dass sie keinen neuen strategischen Zweck erfüllt und damit die Region bedroht“, sagte Powell zeitgleich zur Herausgabe des Pentagonberichts. Worauf sich Präsident George W. Bush fürs Erste auf die Seite Powells schlug, aber gleichzeitig seinem Verteidigungsminister auftrug, die im vergangenen Jahr gestoppten militärischen Konsultationen mit Peking wiederaufzunehmen.

Trotzdem ist der allgemeine Eindruck der Harmlosigkeit in Tianjin falsch. Denn Chinas Armee ist ja nicht dazu da, Krieg mit den USA zu führen. Nur die dummen Reporterfragen legen das nahe. Oder der Kommentar des ABC-Fernsehkorrespondenten, der vor den Düsenmotoren eines 30 Jahre alten Jets ins Mikrofon schreit, dass China „entschlossen sei, eine militärische Supermacht zu werden“.

Die Kommandanten der Volksbefreiungsarmee indes wiederholen ständig: „Unsere Aufgabe ist die Verteidigung des Mutterlandes.“ Dazu gehört das alte maoistische Konzept des Volkskrieges. „Im Volkskrieg liegt Chinas Vorteil und Stärke“, belehrte Generalmajor Zhan Maohai kürzlich ein Expertenseminar, an dem auch US-Verteidigungsvize Paul Wolfowitz teilnahm. Damit aber ist vor allem eines nicht ausgeschlossen: der Krieg gegen das eigene Volk, den der Maoismus stets mit dem Volkskrieg verwechselte.

Unheimlich in Tianjin sind deshalb nicht die Waffen, unheimlich sind die starren Blicke der Soldaten. Sie signalisieren den durch nichts zu erschütternden Gehorsam. Während sich der Rest des Landes öffnet, bleibt die Armee unfähig zu jeder Kommunikation nach außen. Die Volksbefreiungsarmee kann vom Ausland lernen, was sie will – zuerst muss sie lernen, was 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens geschah.