Einmal Stalin mit Eis

Schwer enttäuscht von Demokratie und Marktwirtschaft sehnen sich immer mehr Polen nach der guten, alten Zeit

WARSCHAU taz ■ „Einmal Arbeiterklasse mit bissigem Stalin, bitte“. Die Kellnerin notiert die Bestellung routiniert. „Vielleicht noch einen Salat? Bierut ist heute besonders lecker.“ Pawel schüttelt den Kopf. „Aber den bissigen Stalin bitte mit Eis.“ Studenten in Polens Boomstadt Breslau lieben ihre neue In-Kneipe – das „PRL“. An den Wänden der „Volksrepublik Polen“ hängen die Ikonen vergangener Zeiten: Lenin und Stalin in Öl, Arbeiterhelden und Junge Pioniere. Auf der Speisekarte prangt das sozialistische Staatswappen Polens und zu essen gibt es „kaszanka“ – Grützwurst und „kluski leniwe“ – faule Klöße. Die Platten legt Edward Gierek auf, einst erster Sekretär der polnischen Arbeiterpartei.

Doch was für die einen Kult ist, ist für die anderen „die gute alte Zeit“. Einer neuen Umfrage zufolge würden heute 68 Prozent der polnischen Bauern lieber heute als morgen zum Sozialismus zurückkehren. Auch die Gesellschaft insgesamt ist gespalten: 13 Jahre nach der Wende leben nur 42 Prozent der Polen lieber im heutigen Polen denn in dem der Giereks, Kanias und Jaruzelskis, 39 Prozent sehnen sich zurück. 19 Prozent sind unentschieden.

Für Soziologen ist die Ostalgie im früheren Ostblock nicht schwer zu erklären: Demokratie und Marktwirtschaft sind nicht die erwarteten Paradiese. Doch in Polen war die Bevölkerung bereit, einige Jahren den Gürtel eng zu schnallen. Sie hat die galoppierende Inflation ertragen, die Pleite der ehemaligen „Leninwerft“ in Danzig akzeptiert, schließlich in den sauren Apfel des Steuerzahlens gebissen.

Doch der Lohn für all die Mühen bleibt noch immer aus. 2001 ist das Wirtschaftswachstum auf 1 Prozent gesunken, die Arbeitslosenrate auf 18 Prozent gestiegen, vor kurzem ist die Stettiner Werft in Konkurs gegangen. Es steht eine Rekordernte bevor, doch die Silos sind voll; wer das Getreide kaufen soll, steht in den Sternen. Die Korruptionsskandale lassen sich kaum noch zählen. Die Stimmung in Polen ist schlecht. „Die Polen fühlen sich heute wie Marathonläufer nach dem 40. Kilometer“, diagnostiziert Janusz Sledzicki in Newsweek Polska. „Doch niemand sagt ihnen, wie weit es noch bis zum Ziel ist.“ GABRIELE LESSER