Visionäre Wand

Das höchste Graffito der Welt, von zwei jungen Afghanen in 80 Tagen gesprayt, ziert seit gestern ein Saga-Hochaus am Osdorfer Born

von TINA SPIES

„Nulon, lächeln!“, ruft ein Mädchen auf Inlineskates. „Kann ich nicht dauernd“, antwortet dieser und versucht dabei, so wenig wie möglich die Lippen zu bewegen. Schließlich ist er umringt von Fotografen. Und die stehen vor der unlösbaren Aufgabe, ein 42 Meter hohes Graffito, das sich über 13 Stockwerke eines Hochhauses erstreckt, und zwei junge Männer auf ein Bild zu bringen.

Die Brüder Aimal und Haris Jahed, genannt „NULON“ und „FUSION“, sind über Nacht berühmt geworden. In 80 Tagen haben sie in unbezahlter Arbeit das höchste Graffito der Welt geschaffen und kommen nun ins Guinness-Buch der Rekorde. „Zwölf bis 14 Stunden haben wir am Tag gearbeitet. Und wenn tagsüber schlechtes Wetter war, dann haben wir eben nachts gesprüht“, erzählt der 25-jährige Haris, während die Fotografen auf der Rutschbahn des gegenüberliegenden Kinderspielplatzes balancieren. Einige haben sich auch in den Sand gegraben, um aus dieser Perspektive das 550 Quadratmeter große Bild auf ein Foto zu quetschen.

Ganz hoch über NULON und FUSION, die mit Atemmaske und Spraydose posieren, sieht man einen Teil des Erdballs. „Da haben wir die Schönheit der Natur dargestellt. Von dort geht dann ein Zoom auf Hamburg und auf Osdorf mit seiner Multikulti-Gesellschaft“, beschreibt der 23-jährige Aimal. Positives strahlt der obere Teil des Graffito aus. Doch zur Mitte hin wird es düster. „Das ist der Eingriff der Industrie. Aus dem Fluss wird ein Tornado, der alles mit sich reißt und zerstört.“

Aber schon ein paar Stockwerke weiter unten wird aus der Vernichtung eine neue Vision: Das Osdorf der Zukunft mit fliegenden Blumenbeeten, schiefen Türmen, beflügelten Bildschirmen und Raumschiffen.

Über ein Jahr haben die beiden in Afghanistan geborenen und in Hamburg aufgewachsenen Brüder gesucht, bis sie die passende Fläche für ihr Projekt gefunden hatten: ein Saga-Hochhaus im Osdorfer Born. Zusammen mit BewohnerInnen, dem Stadtteilbüro und der Saga wurde das Motiv abgestimmt. So entstand das Thema: Die Beziehung zwischen Mensch und Natur. „Es soll ein Bewusstsein geweckt werden, die Natur für nachfolgende Generationen zu erhalten“, erläutert Eberhard Gilde, Leiter der Saga-Geschäftsstelle Osdorf.

Inzwischen ist ein Reinigungsteam der Stadt eingetroffen, das zum Kummer der Fernsehteams mit ohrenbetäubendem Lärm eine Straßenlaterne von Farbresten befreit. Schließlich soll es ordentlich aussehen zur Verleihung der „Goldenen Spraydose“ durch das Stadtteilbüro. Nicht so sauber ist die Bilanz des Projekts: Die Kosten von 23.000 Euro sind trotz der Unterstützung von 21 Sponsoren noch nicht vollständig gedeckt.