Ein Menu gegen die Isolation

In der Kreuzberger Weltküche kochen HIV-infizierte Migranten für die Nachbarschaft – eines der wenigen Selbsthilfeprojekte. Auch kulturspezifische Beratungsstellen gibt es kaum. Die großen Einrichtungen tun sich mit den Einwanderern schwer

„Viele erreichen wir erst, wenn sie schon im Krankenhaus liegen.“„Meine Beratung ist anders. Für mich ist jede schwarze Frau eine Schwester.“

von SABINE AM ORDE

Dieser Duft empfängt einen gleich an der Tür. Fleisch muss es sein, mit Knoblauch, Zwiebeln und Tomaten – und verdammt gut gewürzt. Margret (Name geändert) nickt, grinst und hebt stolz den Deckel von einem der drei großen Töpfe auf dem Gasherd. „Das wird Injera mit Fleisch und Gemüse“, sagt die Afrikanerin und erklärt in gebrochenem Englisch, gemischt mit ein paar Brocken Deutsch, was alles in den Töpfen schmort: Weißkohl, Karotten und Brokkoli, Kartoffeln, und eben Kalbfleisch in dieser göttlich riechenden Soße. Seit zweieinhalb Stunden bereits wirbeln Margret, Ewa und Diani in der Küche. Ein Abendessen für gut 60 Leute braucht seine Zeit.

Jeden Mittwoch um 19 Uhr bietet die „Weltküche“ seit knapp zwei Jahren in der Orangerie in der Reichenberger Straße in Kreuzberg ein Zwei-Gänge-Menü an. Die Weltküche ist ein Selbsthilfeprojekt für Migranten, die HIV-positiv sind. Pablo Fernandez, der aus Spanien stammt und selbst infiziert ist, ist einer der Initiatoren und als EU-Bürger besser dran als viele andere in der Gruppe. „Die meisten von uns haben eine Duldung, weil sie mit der HIV-Therapie angefangen haben und die in ihrem Heimatland nicht fortsetzen könnten“, sagt er. „Sie dürfen zwar bleiben, aber nicht arbeiten. Wir wollen aber etwas tun.“ Pablo ärgert, dass es über positive Migranten nur ein Bild gibt: das arme, isolierte Opfer. „Dabei haben wir so viele Ressourcen“, sagt er, „und eine davon ist, dass wir wunderbar kochen können.“

Margret ist fast von Anfang an dabei. Sie kam Mitte der 90er-Jahre aus Ostafrika nach Berlin und blieb, einen Aufenthaltsstatus hatte sie nicht. Damals, ist sie sich sicher, war sie noch nicht infiziert. Angesteckt hat sie ihr ehemaliger Freund, ein Landsmann, der positiv war, es wusste, aber ihr nicht sagte. Irgendwann wurde sie krank, verlor immer mehr an Gewicht. Als sie schließlich zum Arzt ging, machte der einen Aids-Test. Das Ergebnis: positiv. „Ich habe es nicht geglaubt und tagelang geweint“, sagt Margret und rührt energisch im Gemüsetopf. „Und ich war ganz allein.“

Zwar hatte sie Kontakte in der afrikanischen Community. Aber mit ihnen über ihre Krankheit reden wollte 42-Jährige auf keinen Fall. Auch heute will sie nichts in der Zeitung lesen, was klare Rückschlüsse auf ihre Person möglich macht. Das Wissen um ihre Krankheit würde eine Ausgrenzung aus der Community bedeuten. Margret ging schließlich zur Berliner Aids-Hilfe (BAH), die sie bei Therapie, Duldung und Sozialhilfe unterstützte. Als sie Pablo kennen lernte, war sie völlig isoliert. Ihre einzigen Kontaktstellen waren das Sozialamt und die BAH-Beraterin. „Heute sehe ich hier ganz viele Leute, und es ist ein gutes Gefühl, wenn ihnen mein Essen schmeckt“, sagt Margret. Und natürlich bleibt in der Küche auch immer wieder Zeit für einen Plausch.

„Frauengespräche“ nennt Diani das. Ihre Eltern sind Exilkubaner, aufgewachsen ist sie in den USA, seit 12 Jahren lebt sie in Deutschland. Diani und Ewa, die aus Polen stammt, sind beide nicht positiv, aber „Freunde der Weltküche“. Heute sind sie Zuarbeiterinnen und schnibbeln, was Chefköchin Margret braucht. Die zwölf Weltküche-Mitarbeiter kochen abwechselnd Gerichte aus ihrer Heimat.

Die Orangerie im Erdgeschoss eines Wohnprojekts des Vereins „Zuhause im Kiez“ (ZiK) wirkt nicht wie ein Selbsthilfetreff, sondern wie ein geschmackvoll eingerichtetes Café. An einem der Holztische sitzt Carmen Valdivia, die in der BAH mit einer halben Stelle Migranten sozialrechtlich betreut. Neben einem Kollegen, der bei ZiK arbeitet, ist sie die einzige Ansprechpartnerin speziell für Einwanderer in den großen Hilfseinrichtungen.

Wenn sie über die Weltküche spricht und dabei ab und zu an ihrem Rotwein nippt, gerät Carmen Valdivia ins Schwärmen. Ärgerlich aber wird die schmale, energische Frau, die aus Peru stammt, wenn man sie fragt, ob es nicht zu wenig Angebote für infizierte und an Aids erkrankte Migranten gibt. „Welche Migranten?“, fragt sie dann und legt viel Wert darauf, dass man nicht alle Einwanderer in einen Topf werfen darf. „Außerdem stimmt es nicht, dass sich die Migranten nicht in die existierenden Beratungsstellen trauen.“ Ihre Sprechstunde zweimal pro Woche in der BAH sei schließlich gut gefüllt.

Knapp hundert Beratungen waren es im vergangenen Jahr. Viele Afrikaner kommen zu ihr, aber auch Menschen aus Lateinamerika, Asien und Osteuropa. Besonders aufwändig ist die Arbeit, wenn diese weder Aufenthaltsrecht noch Krankenversicherung haben und geklärt werden muss, wer die Kosten übernimmt. Das kommt oft vor. Doch auch Valdivia sieht, dass viele Betroffene nicht zur BAH kommen. „Viele erreichen wir erst, wenn sie schon im Krankenhaus liegen.“ Ihre Schlussfolgerung ist klar: „In einem Einwanderungsland dürfen Migranten nicht als Extragruppe betrachtet werden. Die Institutionen müssen sich endlich wirklich allen öffnen.“

Diese Einsicht hält ganz langsam auch in die BAH Einzug und in den anderen Vereinen, die im Landesverband der Berliner Aids- und Selbsthilfegruppen (LaBas) zusammengeschlossen sind. Der hat im Frühjahr 2000 eine Expertise zur „interkulturellen Öffnung“ in Auftrag gegeben, die rege nachgefragt wird. Doch die Umsetzung fällt allen Beteiligten schwer. „Aber wir sind auf dem richtigen Weg“, ist sich BAH-Geschäftsführer Kai-Uwe Merkenich sicher.

Carmen Valdivia sieht auch bei den Migranten Handlungsbedarf: „Wir müssen uns diese Räume auch erkämpfen“, sagt sie. Das haben die schwulen Männer, die die Hilfsszene beherrschen, ja auch irgendwann getan. Zudem, fordert die engagierte Beraterin, müssten sich auch die Einwanderer und ihre Vereine endlich dieser Frage annehmen.

Am Rand der Bar hat sich inzwischen eine Schlange gebildet . „Mit Fleisch?“, fragt Pablo das junge Paar, das um die Ecke wohnt und an der Spitze der Schlange steht. Als sie nicken, wird in der Küche rotiert: Teller mit Injera, dem dünnen afrikanischen Brot, das Margret zu Hause vorbereitet hat, stehen bereit. Diani füllt Eisbergsalat, Tomaten und Radieschen darauf, Margret Gemüse und Fleisch, bei Pablo, der gegen drei Euro auch noch ein Plastikkärtchen für den tropischen Fruchtsalat zum Dessert verteilt, steht die Salatsoße.

Während in der Orangerie reges Treiben herrscht, ist es ein paar hundert Meter entfernt, in einem großen Büro im vierten Stock direkt am Kottbusser Tor ruhig. Hier residiert ADM, eine Aids-Beratungsstelle für Migranten aus der Türkei. Birol Isik kommt sich vor „wie der letzte Mohikaner“. Und so wirkt er auch. Isik ist der Letzte von ehemals fünf angestellten Mitarbeitern des 1989 gegründeten Projekts. Die Kürzungen hat der LaBas beschlossen, der von der Gesundheitsverwaltung eine – immer kleinere werdende – Pauschale für Prävention und Beratung bekommt und diese dann unter den Mitgliedsorganisationen verteilt. Türken seien schließlich weitgehend integriert, habe der LaBas argumentiert, sagt Isik. Und macht keinen Hehl daraus, dass er ganz anderer Meinung ist.

In der türkischen Community, da sind sich Experten einig, sind die HIV-Risikogruppen ganz ähnlich wie in der deutschen. Vor allem schwule Männer und Drogenabhängige infizieren sich. „Aber im Unterschied zu den Deutschen ist das Thema Sexualität bei den Türken extrem tabuisiert“, sagt der ADM-Mann. Das gelte auch für die türkischen Vereine, selbst bei den fortschrittlichen wie dem Türkischen Bund. Der vermittelt zwar, wenn nötig, einen Kontakt zu ADM. Eigeninitiative im Bereich Sexualität und Aids aber gibt es nicht. Dabei gebe es hier große Wissenslücken, selbst bei Betroffenen. Immer wieder komme es vor, sagt Isik, dass gläubige Muslime die Krankheit als Strafe Gottes werten. Früher hat ADM mit Schulklassen gearbeitet, Jugendlichen Raum gegeben für Fragen über ihren Körper, Sexualität und eben auch über Aids. „Irgendwann sprudelten die Fragen dann, und es war immer wieder erschreckend, wie wenig sie über ihren eigenen Körper wissen.“ Zu dieser Präventionsarbeit kommt Isik heute kaum noch.

„Ein Coming-out verknüpft mit der Infektion bedeutet für Türken fast immer den Bruch mit Familie und Community“, sagt Birol Isik, der selbst einer der wenigen offen schwulen Türken in Berlin ist. Weil es aber so gut wie keine türkische Schwulenszene gibt und die meisten Türken sich unter deutschen Homosexuellen nicht wohlfühlen, steht nach dem Coming-out die Isolation. Daher ist sich Isik sicher, dass es eine kulturspezifische Aidsberatung für Türken geben muss.

Ähnlich sieht es Rosaline Mbayo für die Berliner Afrikaner. Die gelernte Krankenschwester aus Sierra Leone lebt seit 16 Jahren in Berlin. Seit 1999 berät sie HIV-infizierte und aidskranke afrikanische Einwanderer. Als sie anfing, wusste sie selbst nichts über die tödliche Krankheit. „Das hat mich ganz schön nervös gemacht“, sagt sie und grinst. Mbayo hat ein kleines Büro bei VIA, dem Verband für interkulturelle Arbeit, in der Kadiner Straße in Friedrichshain. 30 Betroffene hat sie bislang betreut, meist heterosexuelle Frauen. Die haben die Adresse von Afrika-Herz, so heißt das kleine Projekt, vom Gesundheitsamt, Ärzten oder aus dem Krankenhaus. Mbayos Klienten kommen erst, wenn gar nichts mehr geht. Ihr Hauptproblem: das Aufenthaltsrecht. „Alles andere ist zweitrangig.“ Deshalb arbeitet die Beraterin mit einer Anwältin des Afrika-Centers zusammen, einem Begegnungstreff in Schöneberg. „Sie übernimmt den rechtlichen Teil, ich die Sozialberatung.“

Die meisten ihrer Klienten wollen nicht in einer Beratungsstelle gesehen werden. Deshalb trifft sich Mbayo mit ihnen in einem Café, bei McDonald’s oder zu Hause bei ihren Klienten. Da wird dann gemeinsam gekocht, die Haare frisiert und über alles mögliche geredet. „Meine Beratung ist anders als die von anderen Beratungsstellen“, sagt sie. „Für mich ist jede schwarze Frau eine Schwester.“

Die meisten Afrikaner, die in Berlin leben, seien nicht über HIV und Aids informiert. „Man redet nicht über Sexualität in Afrika.“ Langsam versucht Mbayo, ihre Community genau dazu zu bewegen. Deshalb hat sie letztes Jahr mit dem Afrika-Center eine Gesundheitsnacht organisiert. Von HIV und Aids war im Vorfeld nicht die Rede. „Dann wäre garantiert niemand gekommen.“ Mit diesen Themen würden Homosexualität und Drogenmissbrauch verbunden – ebenfalls Tabus in der Community. Deshalb, da ist sich Rosaline Mbayo sicher, würden ihre Klienten auch niemals eine Beratung wie die BAH aufsuchen. „Da fühlen sie sich nicht wohl und können sich auch nicht verständigen.“ Zur „African Health Night“ kamen über hundert Teilnehmer und hörten auch zu, als drei Positive über ihr Leben mit dem Aids-Virus sprachen. „Das war immerhin ein Anfang“, sagt Mbayo.

Ein paar Türen neben Afrika-Herz sitzt Akam, VIAs Gesundheitsberatungsstelle für Einwanderer aus Osteuropa. Die beiden Frauen, die hier arbeiten, wollen nicht mit der Presse sprechen. Sie sind selbst russischsprachige Migrantinnen, die das Arbeitsamt über Strukturanpassungsmaßnahmen (SAM) an VIA vermittelt hat. Mit Aids hatten beide zuvor nicht zu tun. „Die eine ist Zahnärztin, die andere Chemikerin“, sagt VIA-Geschäftsführer Holger Förster. Er ist sich sicher, dass es künftig eher mehr Beratungsstellen wie Akam geben muss. „Schließlich werden immer mehr Menschen aus den ehemaligen GUS-Staaten nach Berlin kommen.“ Grundsätzlich aber teilt er die Einschätzung von Carmen Valdivia: „Im gesundheitlichen Regeldienst ist ein Strukturwandel gefragt.“

Die BAH-Beraterin sitzt in der Orangerie längst bei ihrem zweiten Glas Rotwein. In der Küche herrscht hektische Betriebsamkeit. Das Essen geht langsam aus. „Ich setze noch Couscous auf“, sagt Ewa und schüttet heißes Wasser über den Hartweizengrieß. Dann ist das Gemüse alle, um Viertel vor acht geht gar nichts mehr. Margret greift zu ihrem Tee. Sie stört es nicht, dass für sie nichts zu essen übrig blieb. Pablo dagegen, der für den Einkauf zuständig ist, sich dabei aber an die Angaben der jeweiligen Chefköchin hält, ist etwas genervt. Er hat es nicht gern, wenn das Essen nicht reicht. Schließlich will sich die Weltküche professionalisieren. Neben dem Catering-Service, den es schon gibt, träumt Pablo von einem Restaurant. „Injera mit Fleisch und Gemüse“ könnte man da sicherlich servieren.

Nächsten Mittwoch in der Weltküche: Pilapia-Fisch in Tomatensoße, Gemüseeintopf in Erdnusssoße, zum Nachtisch Süßkartoffelkuchen. Orangerie von ZiK, Reichenberger Str. 129, Kreuzberg. Infos: www.die-weltkueche.de