Prävention zuerst für Deutsche

Ärzte und Berater kritisieren das Berliner Gesundheitssystem: Obwohl der Anteil der Migranten an den HIV-Infizierten steigt, gibt es für sie kein funktionierendes Beratungs- und Versorgungsangebot. PDS-Senatorin Knake-Werner soll eingreifen

von SABINE AM ORDE

Aids-Fachleute aus Arztpraxen, dem Auguste-Viktoria-Krankenhaus und der Beratungsstelle „Zuhause im Kiez“ (ZiK) haben scharfe Kritik am Versorgungssytem der Stadt geübt. Obwohl der Anteil der Migranten an den HIV-Infizierten und Aids-Kranken in Berlin immer weiter steige, gebe es für diese Gruppe kein entsprechendes Beratungs- und Versorgungsangebot. „Diese Menschen werden so gut wie gar nicht erreicht“, sagte der Arzt Jörg Gölz, der die größte Aids-Schwerpunktpraxis in Berlin leitet, im Gespräch mit der taz. „Das ist eine Katastrophe.“ Die Betroffenen wüssten häufig nichts von ihrer Infektion, würden nicht behandelt und durch Unkenntnis den Virus weiterverbreiten.

Die Berliner Gesundheitspolitik, aber auch die Selbsthilfeorganisationen, die im Landesverband der Berliner Aids- und Selbsthilfegruppen (LaBas) zusammen geschlossen sind, hätten versagt, kritisieren die Experten unisono. Jetzt müsse Gesundheitssenatorin Heidi Knake-Werner (PDS) eingreifen und neue Angebote schaffen. „Mit der Einwanderung aus Afrika und Osteuropa wird das Problem weiter wachsen“, sagt Gölz, der in seiner Praxis viele Afrikaner behandelt. Nach seinen Schätzungen ist in Berlin fast jeder zehnte der insgesamt 10.000 Einwanderer aus dem südlichen Afrika HIV-infiziert. In Behandlung aber seien nur 135.

Mit den Daten des Robert Koch Instituts (RKI), das bundesweit Informationen zu HIV und Aids sammelt, kann man diese Schätzung nicht belegen. Doch generell decken sich die Zahlen mit den Erfahrungen der Berliner Experten. Nach den Informationen des RKI hat der Anteil der Migranten an den Neuinfizierten in der Bundesrepublik deutlich zugenommen. Nach den Schwulen lagen sie im vergangenen Jahr mit 18 Prozent auf Platz zwei und damit vor den Drogenabhängigen. Bei den Neuinfektionen erfasst das RKI allerdings nur die Migranten gesondert, die aus den so genannten Hochprävalenzländern stammen, also Ländern, in denen der Aidsvirus weit verbreitet ist: das südliche Afrika, die Karibik und Südostasien. Obwohl die Infektionen in Osteuropa dramatisch zunehmen, gehört diese Region noch nicht dazu. Experten gehen deshalb davon aus, dass besonders in Berlin der Anteil der Migranten an den Neuinfizierten noch höher liegt.

Spezielle Beratungseinrichtungen für diese Gruppen gibt es in Berlin bislang kaum. Das Ergebnis: Von Prävention oder früher HIV-Therapie werden sie nicht erreicht. „Die kommen erst, wenn sie schwerstkrank sind“, klagt Keiwakus Arasteh, der die Aids-Abteilung im Auguste-Viktoria-Krankenhaus leitet. Der Chefarzt ist sich sicher, dass die Hemmschwelle, eine Einrichtung wie die Aidshilfe aufzusuchen, für viele Migranten zu groß sei. Einerseits würde die Aidshilfe mit einer Schwulenberatung gleichgesetzt, zum anderen mit einer Behörde, denen viele Migranten extrem skeptisch gegenüber ständen. Noch wichtiger aber: Andere Probleme haben für sie schlicht Priorität. „Viele von ihnen haben keinen Aufenthaltsstatus und keine Krankenversicherung“, sagt Arasteh, „und damit muss man endlich umgehen.“ Wie seine Kollegen aus den Schwerpunktpraxen und von ZiK fordert der Chefarzt deshalb niedrigschwellige Angebote, in denen es Ansprechpartner aus den Kulturkreisen der Migranten und entsprechende Sprachkenntnisse gibt. ZiK-Mitarbeiter Felix Gallé hält zudem eine intensive Prävention in die Communities hinein für überfällig: „Es ist ein Skandal, dass es Präventionsarbeit bisher quasi nur für Deutsche gibt.“

Der Zugang zu den Migranten-Communities ist für HIV- und Aidsberater schwer. „Unter Afrikanern ist Aids ein absolutes Tabu. Eine Infektion bedeutet die Ausgrenzung aus der Community“, sagt Rosaline Mbayo, die als Einzige in Berlin speziell Afrikaner mit HIV oder Aids betreut. „Und sie sind extrem schlecht informiert.“ Ähnliches, so heißt es unter den Experten, gelte auch für Migranten etwa aus Osteuropa oder der Türkei.

LaBas-Geschäftsführer Michael Martens teilt zwar diese Einschätzung, aber nicht die Kritik an den 14 Mitgliedsvereinen des Selbsthilfe-Landesverbands. „Wir arbeiten seit Jahren an der interkulturellen Öffnung der Beratungsstellen“, sagt er. Das und nicht zusätzliche Einrichtungen speziell für Migranten sei der richtige Weg. Zu dieser Überlegung dürfte neben fachlichen Kriterien auch die Finanzsituation des LaBas beitragen, der seit 1994 vom Land Geld für die Aids-Beratung bekommt und dieses unter den Mitgliedsvereinen verteilt. Denn seit Jahren gibt es immer weniger zu verteilen.

Auch in der Gesundheitsverwaltung sieht man das Problem. Zwar stehe allen Einwanderern mit einem geregelten Aufenthaltsstatus die medizinische Versorgung offen, sagte die stellvertretende Sprecherin von Gesundheitssenatorin Knake-Werner, Regina Kneiding. „Wir sind aber der Ansicht, dass zielgruppenspezifische Angebote verstärkt werden müssen.“ Dies gelte besonders mit Blick auf die zunehmende Einwanderung aus Osteuropa. „Mehr Geld kann es dafür aber nicht geben“, so Kneiding. Der LaBas müsse mit den festgeschriebenen Mitteln auskommen.

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