Die anormale Normalität

Dieter Baumann gewinnt bei den Europameisterschaften die Silbermedaille über 10.000 m und versucht danach beharrlich, die triumphale Rückkehr als ganz gewöhnliche Sache darzustellen

„Es ist mir völlig schnuppe, ob der Kaiser von China oder Mister X gratuliert.“

aus München FRANK KETTERER

Es war in der Mixedzone, wo es zur ersten Begegnung danach kam. Dieter Baumann sonnte seinen immer noch entblößten Oberkörper längst im grellen Licht der Fernsehscheinwerfer, als auch Ehefrau und Trainerin Isabell endlich den Weg gefunden hatte von der verregneten Tribüne mitten hinein in den Bauch des Münchner Olympiastadions. Von hinten schlich sie sich heran, noch während der Herr Gemahl eifrig und in durchaus typischer Manier die Fragen der Journalistenmeute beantwortete, die sich wie eine Traube um ihn herum drapiert hatte. Dann drückte Isabell ihrem Gatten einen flüchtigen Kuss aufs Haupt, bevor sie zwei, drei Mal ausgelassen die Hände zusammenklatschte und schließlich unter einem heftigen Jauchzer wieder verschwand.

Die Begegnung des Ehepaars Baumann in der Mixedzone war natürlich nur eine kleine Episode an diesem denkwürdigen Abend von München, nicht viel mehr als eine Randgeschichte. Aber sie blieb doch in der Erinnerung haften, ebenso wie die Tränen, die Isabell Baumann noch auf der Tribüne vergossen hatte, just in dem Moment, als ihr Dieter über die Ziellinie gespurtet war als glänzender Zweitplatzierter und somit Silbermedaillengewinner eines großen 10.000-m-Rennens bei dieser Leichtathletik-EM. Letztendlich waren es Tränenstrom und Jubeljauchzer der Isabell Baumann, die für einen kurzen Moment den Blick frei gaben auf die aufgewühlte Gefühlswelt des Ehepaares. Vor allem aber führten sie so ziemlich alles ad absurdum, was der Leichtathlet von der Schwäbischen Alb so von sich gab an diesem Abend.

Baumann, der auf die Tartanbahn zurückgekehrte Dopingsünder, war in seinem ersten internationalen Titelrennen nach 1998 mit 27:47,87 Minuten nämlich nicht nur eine beachtlich schnelle Zeit in einem taktisch klugen Rennen gelaufen, in dem ihm auf der Zielgeraden lediglich der Spanier José Manuel Martinez (27:47,65) Paroli bieten konnte, sondern danach mindestens ebenso sehr bemüht, seinen Auftritt als das darzustellen, was er nun ganz bestimmt nicht war, auch für ihn nicht: ein ganz normales Rennen. Dafür war denn doch zu viel vorgefallen in den vergangenen zwei Jahren, in denen aus dem Saubermann der Dopingsünder und aus diesem wiederum der selbstkonstruierte und reichlich abenteuerlich anmutende Kriminalfall Baumann geworden war.

Und wie tief die Gräben, die dabei aufgebuddelt wurden, immer noch sind, dürfte auch die Tatsache zeigen, dass es dem Vernehmen nach gar nicht so leicht gewesen sein soll, einen Offiziellen zu finden, der Baumann bei der gestrigen Siegerehrung seine silberne Plakette um den Hals hängen wollte. Sowohl Clemens Prokop, Präsident des Deutschen Leichtathletik Verbandes (DLV), als auch Helmut Digel, Prokops Vorgänger im Amt und noch während dessen Sündenfalls väterlicher Freund des Läufers, sollen noch nicht einmal im Traum daran gedacht haben, sich um den Job zu bemühen. Nach freundlicher Resozialisierung des verlorenen Sohnes in der großen Familie der deutschen Leichtathletik klingt das nicht eben.

Baumann ist’s recht so, behauptet er. „Es ist mir völlig schnuppe, wer mir gratuliert. Das kann der Kaiser von China sein oder Mister X, Hauptsache, er meint es ehrlich“, hat er am späten Mittwochabend in strengem Ton gesagt – und Hauptsache, der Kaiser von China heißt mit Nachname nicht gerade Prokop. Wobei das noch der glaubhafteste Teil von Baumanns Ausführungen zum Thema war, den großen Rest konnte man ihm schon gleich gar nicht abkaufen. „Ich verspüre keine Genugtuung“, sagte er da – und badete dabei gleich in einer ganzen Wanne voller Genugtuung. „Ich muss niemandem mehr etwas beweisen“, behauptete er – und freute sich wie ein Schneekönig darüber, es allen gezeigt und bewiesen zu haben. Der Dopingfall Baumann mag de facto und offiziell als abgeschlossen gelten, zu Ende ist er deshalb noch lange nicht, schon gar nicht für den streitbaren Schwaben selbst.

Das gilt im Übrigen auch für die läuferische Karriere Baumanns. In der Höhe von St. Moritz, wo er sich auf die EM in München vorbereitet hatte, sei endlich wieder jene Lauffreude zurückgekehrt, die ihm in all dem Tohuwabohu verloren gegangen war. „Dort oben habe ich schon gesagt“, erklärte er nun unten in München, „dass ich nächstes Jahr eine ganz normale Saison machen möchte“, inklusive der WM im Sommer in Paris und einem zweiten Marathon im Herbst. Sein erster Versuch war dieses Frühjahr in Hamburg ja doch recht kläglich gescheitert. Und dann, nach dem Marathon, steht auch schon das Jahr 2004 an. „Bis zu den Olympischen Spielen nach Athen ist es dann ja nicht mehr weit“, hat Dieter Baumann schon bemerkt.