auf der alm, da gibt’s koa sünd (teil 6)
: taz-Sommerreporter JOSEF WINKLER wartet auf die Kühe, die nach Hause kommen

Ich zerfließe in eine tintenartige Flüssigkeit

Vor meinem Zaun steht ein Schopftintling. Ich hätte ihn jung braten können, den Leckren, und gestern wollte ihn Matthias als Würze ins Gulasch schneiden, aber ich habe es ihm verboten. Er soll da stehen bleiben, weil ich mitverfolgen möchte, wie er, so verheißt mein alter „BLV Naturführer Pilze“, „in eine tintenartige Flüssigkeit zerfließt“.

Tatsache ist, dass demnächst auch ich in eine tintenartige Flüssigkeit zerfließe, wenn das mit dem Wetter so weitergeht. Es regnet seit mittlerweile 32 Stunden. Das ist Regen, kein Geniesel und Getröpfel, sondern Jacke zum Trocknen hängen, wenn man eine halbe Minute draußen war. Und das sind 32 Stunden, am Stück und anhaltend.

Faszinierend, eigentlich. Überall an den Hängen haben sich weißliche Adern gebildet, zu schäumenden Sturzbächlein angeschwollene Rinnsale, dazwischen stehen mit aufgebuckelten Rücken und angelegten Ohren triefende Kühe herum. Schön flauschig und weich waren sie aber heute beim Abendmelken, wie frisch aus der Waschmaschine.

Und man darf sich eh nicht beklagen. Es gab schon Jahre, da wurde Mitte August die Almsaison für beendet erklärt und das Vieh ins Tal getrieben, weil das Wetter unter Auslassung des Spätsommers in derbsten Herbst umgeschnalzt war. Und es gab den fürwahr bombastischen Sommer 1954, von dem der Kleberauer Sepp noch heute gerne erzählt: Da fiel Anfang Juli, nach zwei Almwochen, innerhalb von einer Nacht so viel Schnee, dass am nächsten Tag Melker und Melkerinnen und Kühe durch schulterhohe Verwehungen den geordneten Rückzug nach unten antreten mussten. Sepp blieb als Einziger auf dem Almboden zurück und zog eine Woche lang jeden Tag auf Schiern von Hütte zu Hütte, um die zurückgelassenen, weil nicht schneegängigen „Fackn“, die Schweine, zu füttern, die damals noch als Resteverwerter zur Standardbesatzung jeder Käserhütte gehörten. Bei der Aussprache muss an das „ck“ so einen leichten arabisch/tirolerischen „kch“-Keuchlaut hängen. Ein Fackch. Zwei Fackchn. Bist a rechts Fackche. Dua den Fackch da weckch, du Sackch.

Herrgott, ja, ich gebe es zu, ich habe da vorhin ein bisschen geflunkert, weil es sich besser anhörte: Genau genommen hatte es vorhin nach 32 Stunden aufgehört, am Stück anhaltend zu regnen. Aber jetzt. Hat es gerade wieder angefangen. Man kann die stumpfweiße Nebelfront im Osten, hinter der das Seehorn, 2.321 Meter, und der Große Hundstod, 2.594 Meter, absolut blickdicht verpackt sind, anstarren und sich vorstellen, jenseits der Tannen und dem Hügel da liege das Meer, der Rand der Welt gar. Das ist für Momente ganz spaßig, hörst du die Möwen?, aber Tatsache ist, dass demnächst auch ich den Großen Hundstod erleide, wenn das mit dem Wetter so weitergeht. Na ja, gut für die Schwammerl ist es, obwohl es die zwischendurch dann auch mal warm brauchen. Seit Wochen sind mein Nachbar Wolfi und ich im Steinpilzfieber. Ich sage: kiloweise. Paniert, gebacken, wunderbar. Dürfte es jetzt von Rechts wegen noch gar nicht geben, so viele Pilze, die sind ja doch eher ein Herbstding.

Grundgütiger. Was passiert? Sind wir dabei, umzuschnalzen? Mein Freund, der Schopftintling, ist tot. Er zerfloss im frühen Morgenrot in eine tintenartige Flüssigkeit. Morgenrot? Schönwetterbot?! Ich deliriere. Ich fühle mich flauschig. Weich. Ich. Zerfließe …