Die Linie fehlt

taz-Serie „Rot-grüne Bilanzen“: In der Menschenrechtspolitik hatte die Bundesregierung viel vor. Doch letztlich überwogen auch bei ihr politische und wirtschaftliche Interessen

Unter Rot-Grün hatten NGOs Zugang zur Regierungspolitik wie nie zuvor. Bewirken konnten sie wenig

Menschenrechtsorientierte Außenpolitik – ein großes Wort, eine durchwachsene Praxis nach vier Jahren Rot-Grün. Kaum eine Idee ist so eng mit dem Selbstverständnis dieser Koalition verbunden wie die der universellen Geltung von Menschenrechten. Und kaum eine stößt sich so sehr an den ökonomischen und politischen Interessen, die die Bundesregierung auf dem Gebiet der Außen- , der Sicherheits- und der Wirtschaftspolitik verfolgt. Zusammenfassend: Im Kollisionsfall blieben meist die Menschenrechte auf der Strecke.

Dieses Urteil bedarf der Qualifizierung. Man sollte Rot-Grün bescheinigen, dass institutionell im nationalen wie internationalen Rahmen viel getan wurde, um den Aktionsradius für Menschenrechtspolitik zu erweitern. Dazu gehören auf der innerstaatlichen Ebene die Gründung eines selbstständigen Bundestagsausschusses für Menschenrechte, die Einrichtung eines Menschenrechtsinstituts und die Berufung einen Menschenrechtsbeauftragten, dessen Befugnisse allerdings vor der eigenen Haustür Halt machen. International zählen dazu der Einsatz für den Strafgerichtshof, die Ratifizierung einer Reihe wichtiger Abkommen des Menschenrechtsschutzes, auch Initiativen innerhalb der Menschenrechtskommission der UNO in Genf und der UNO-Gremien in New York.

Regierungsarbeit für die Menschenrechte ist eine Querschnittsaufgabe, bei der das Auswärtige Amt wichtige Koordinierungsaufgaben wahrnahm. Aber nach wie vor existieren unterschiedliche Maßstäbe; die Berücksichtigung von Menschenrechtsstandards variiert auch innerhalb der Regierung mit dem Grad der wirtschaftlichen Interessen. Ein Beispiel: Der Export von Rüstungsgütern. Rot-Grün erließ eine neue Richtlinie, aber die tatsächliche Genehmigungspraxis ist weit davon entfernt, den in der Richtlinie genannten minimalen Bedingungen zu entsprechen. Während das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit über einen Menschenrechts-Kriterienkatalog verfügt, existiert im Wirtschaftsministerium dergleichen nicht mal in Ansätzen. Soll beispielsweise die Vergabe von Hermeskrediten menschenrechtlich „konditioniert“ werden? Lieber die Finger davon lassen. Runde Tische mit Unternehmern über die Durchsetzung von Verhaltenskodizes gegenüber den Belegschaften bei Auslandsinvestitionen – bislang keine generalisierbaren Ergebnisse. Mit einem Wort: Es gibt keine Linie.

Solch eine Linie wäre auch keineswegs leicht zu erarbeiten. Kein Mensch, auch nicht die Menschenrechts-NGOs, die sich im „Forum Menschenrechte“ zusammengefunden haben, erwartet von der Regierung, mit jedem Tyrannen Fraktur zu reden und im Weigerungsfall die Beziehungen abzubrechen. Es kommt darauf an, länderspezifischen Bedingungen Rechnung zu tragen, Schritt für Schritt vorzugehen, offene Worte und Verhandlungen hinter geschlossener Tür geschickt zu mischen, Lernprozesse in Gang zu setzen, zu locken – und auch zu drohen. Doch Klarheit über das, was man jeweils fordert und was man schließlich erreicht – davon ist die Bundesregierung weit entfernt.

Am schlimmsten ist der absolute Vorrang der Selektivität, also der Ungleichbehandlung je nach Größe und Wichtigkeit. Das betrifft die Verbündeten, vor allem die USA und deren Menschenrechtspraxis nach dem 11. September. Die USA zu kritisieren war nach den Worten Joschka Fischers „nicht unsere Aufgabe“. Jetzt behauptet er, damit keine Probleme zu haben, aber Kritik an der Menschenrechtspraxis der Amerikaner bleibt weiter außen vor. Selektivität aber auch hinsichtlich der Menschenrechtsbilanz von Großmächten wie Russland und China. Damit ist nichts gegen die Erfolge gesagt, die die EU in Menschenrechtsfragen gegenüber Staaten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas erzielt hat. Aber die sind eben meist arm und klein.

Vor allem im Falle Chinas hat die Bundesregierung zwei Maximen verwirklicht: Sand in die Augen und: Vorwärts auf dem Weg des geringsten Widerstandes! Um diese Maxime zu erreichen, nutzt sie – federführend das Justizministerium – den Rechtsstaatsdialog. Nicht die Behandlung von Gefangenen, nicht Folter und Todesstrafe stehen im Mittelpunkt, sondern Hilfestellung bei der Etablierung des Justiz- und Verwaltungswesens. Das ist wichtig, aber die Verwirklichung von Menschenrechten geht in solchen Reformen nicht auf. Auf deutscher Seite existiert kein Problembewusstsein über den Unterschied zwischen technokratischen Reformen, die dem besseren Funktionieren der Ökonomie dienen, und solchen, die die Rechte der Gewaltunterworfenen verbessern. Eher gibt man sich dem Irrglauben hin, es existiere ein „spill-over“ zwischen ökonomischer Reform und Fortschritten bei den Menschenrechten.

Jede demokratische Regierung wird sich aufs Verhandelnverlegen und Kompromisse anstreben

Es geht nicht um die Alternative Konfrontation oder Dialog. Jede demokratische Regierung, die sich der Zivilität verpflichtet fühlt, wird sich aufs Verhandeln verlegen und Kompromisse anstreben. In Frage steht vielmehr ein ganzheitliches Vorgehen. Wenn aber – mit Rücksicht auf die Exportnation Deutschland – im Verhältnis zu den Großmächten jeder ökonomische Druck ausgeschlossen, wenn die Sphäre der Handelsbeziehungen säuberlich vom Kampf um die Menschenrechte getrennt wird, verurteilt sich Menschenrechtspolitik zur Impotenz. Und wer nur mit den Potentaten verhandelt, Gespräche mit Oppositionellen aber Privateinladungen des Menschenrechtsbeauftragten überlässt, hat sich ebenfalls den Zahn ziehen lassen. Peinlich, dass die Mächtigen durchschaut haben, wie sehr die menschenrechtsfreundlichen Gesten deutscher Politiker der Beschwichtigung der heimischen Klientel dienen, bestenfalls der Beruhigung des eigenen Gewissens. Längst haben sie daraus ihre Schlüsse gezogen.

Die Menschenrechts-NGOs haben unter Rot-Grün Zugang zur Regierungspolitik gehabt wie nie zuvor, bewirken konnten sie wenig. Daran ändern auch die Konsultationen nichts, die zwischen dem Außenminister und dem „Forum Menschenrechte“ laufen. Als Hindernis erweist sich vor allem, dass die Bundesregierung über die Menschenrechtslage im eigenen Land zwar nach Bedarf der Menschenrechtskommission in Genf Rede und Antwort steht, der eigenen Bevölkerung gegenüber sich aber nicht für berichtspflichtig hält. Auch existiert nach wie vor kein Aktionsplan der Regierung für Menschenrechte, an dem sie sich messen lassen müsste. All dies führt einmal dazu, dass der Menschenrechtsausschuss des Bundestages, dessen Kompetenz sich auch auf die Menschenrechtslage in Deutschland erstreckt, bei seinen verdienstvollen Vorstößen quasi leer läuft. Wichtiger: Wer nicht regelmäßig, öffentlich und aus eigenem Antrieb die Menschenrechtslage im eigenen Land hinterfragt, dessen internationaler Einsatz für die Menschenrechte gerät leicht in Verdacht, von anderen als humanen Interessen geleitet zu sein.CHRISTIAN SEMLER

Für weitere Informationen siehe den Aufsatz von Wolfgang Heinz zur rot-grünen Menschenrechtspolitik: www.epd.de